Trotz der traurigen Geschichten amüsieren wir uns prächtig und die Zeit verfliegt im Nu. Als sich die Bar gegen zwei Uhr langsam leert, müssen auch wir an Aufbruch denken, obwohl keiner von uns beiden nach Hause möchte. Doch es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Wir treten in die kalte verschneite Nacht hinaus. Um zu unseren Autos zu gelangen, müssen wir ein kleines steiles Sträßchen hinunterlaufen, was für mich in Turnschuhen problematisch ist. Lachend rutsche ich auf den vor mir gehenden Markus zu und suche, mich mit den Händen an seiner Schulter abstützend, nach Halt. Er dreht sich um und fängt mich übermütig auf. Mein Herz bleibt stehen und schon spüre ich den Hauch eines Kusses auf meinem Mund. Wir schauen uns etwas erschrocken und verlegen an, bevor ich in mein sicheres Auto steige. Verwirrt lasse ich die Scheibe herunter, um mich zu verabschieden. Er lacht mich wieder an, legt seine Hand, während er in gebückter Haltung in den Wagen schaut, auf meine Schulter und sagt: »Du bist eine tolle Frau, pass auf dich auf und komm gut nach Hause.« Er dreht sich um und steigt ebenfalls in sein Auto. Ich fahre los und winke ihm ein letztes Mal zu. Auf der Fahrt nach Hause bin ich völlig aufgewühlt. Zum einen habe ich heftiges Herzklopfen, zum anderen weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Endlich liege ich im Bett, finde jedoch keine Ruhe.
Am Morgen freue ich mich sehr, Napirai bei meiner Mutter abzuholen. Wir frühstücken zusammen und sie erzählt mir, was sie mit Hanspeter und ihrer Großmutter alles erlebt hat. Plötzlich klingelt das Telefon. Es ist elf Uhr. Ich nehme den Hörer ab und höre Markus' Stimme: »Guten Morgen, bist du schon wach und fit?« Mir verschlägt es die Sprache. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er mich heute anrufen würde. Ich merke, wie sehr ich mich über den Anruf freue. Napirai kommt und fragt: »Mama, wer ist das? Mamaaa, sag schon, wer ist am Telefon? Warum lachst du so komisch?« Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich es ihr später erzählen werde. Daraufhin geht sie in ihr Zimmer, um zu spielen. Wir telefonieren fast zwei Stunden. Unglaublich, dass es einen Mann gibt, mit dem man sich so lange angeregt unterhalten kann! Ich lege erst auf, als Napirai zu Recht vorwurfsvoll vor mir steht und erneut fragt: »Mama, du bist so komisch, sag mir endlich, wer am Telefon ist! Hör jetzt endlich auf.« Wir beenden das Telefonat, verabschieden uns und ich erwähne, dass ich die kommende Woche wieder in Deutschland unterwegs bin. Dann nehme ich Napirai auf den Schoß und erzähle ihr, woher ich Markus kenne und wie wir uns gestern zufällig begegnet sind. »Ja, aber warum ruft er heute schon wieder an? Ist das jetzt dein Freund?«, will sie wissen. »Nein, ich glaube nicht, oder besser gesagt, ich weiß es noch nicht.«
»Ich möchte aber nicht, dass du einen Freund hast, Mama!« Ich beruhige meine zehneinhalbj ährige Napirai: »Aber ich habe noch gar keinen Freund.«
Am Nachmittag besuchen wir den Zürcher Zoo und genießen trotz beißender Kälte die wunderschöne Anlage. Vor dem Nachhauseweg verpflegen wir uns mit Pommes und heißem Tee. Zu Hause angekommen stecke ich Napirai in ein wärmendes Vollbad. Kaum sitze ich im Wohnzimmer, klingelt das Telefon. Ich bin völlig platt, als ich heute zum zweiten Mal Markus höre. Ich erzähle von unserem Ausflug und er von seinem einsamen Spaziergang am See. Er fragt, ob wir auch mal mit ihm und seinen Kindern einen Zoobesuch machen würden, wenn sie an einem Wochenende zu Besuch bei ihm sind. Für mich ist das kein Problem, sobald ich etwas mehr Zeit habe. Es ist wieder fast eine Stunde vergangen, bevor wir uns nun endgültig verabschieden. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht wie mit diesem Menschen.
Tags darauf fliege ich nach Düsseldorf. Bevor ich den Terminal verlasse, fällt mein Blick an einem Zeitungsstand auf lustige Ansichtskarten. Spontan schreibe ich Markus ein paar Zeilen und ende nach langer Überlegung mit dem Satz: »Und irgendwie habe ich doch ein Kribbeln im Bauch — und du?« Vor dem Einwerfen zögere ich und überlege, ob das angebracht ist, vielleicht mache ich mich auch lächerlich. Ach was, jetzt oder nie, und schon landet die Karte im Postkasten. Augenblicklich bin ich ruhiger und nehme mir ein Taxi zum Hotel. Himmel, dieser Markus verdreht mir noch den Kopf, denke ich, während mir plötzlich das Gespräch bei der Kartenlegerin in den Sinn kommt. Natürlich! Sie sagte, ich kenne den Mann schon lange. Ich wäre nie auf Markus gekommen, obwohl ich ihn bei dem Klassentreffen bereits anziehend fand. Aber er war ja verheiratet. Allerdings wünschte ich mir danach einen Partner mit ähnlichen Eigenschaften. Mein Bauch flattert bei diesen Gedanken und ich frage mich: »Ist das etwa unser Schicksal?«
Die Lesung am Abend verläuft hervorragend und ich bin richtig beflügelt. Als ich später im Hotelzimmer liege, hätte ich große Lust, zum Telefon zu greifen und ihn anzurufen. Doch ich will nichts überstürzen und weiß im Grunde genommen überhaupt nicht, wie er über uns denkt. Zu Beginn unserer Gespräche hörte ich lediglich heraus, dass er eigentlich keine Beziehung mehr eingehen will, da das mit Kindern sehr schwierig ist. Es würde viel Verständnis von allen Seiten voraussetzen, was ihm fast unmöglich erscheint, weil seine Kinder immer die erste Stelle einnehmen werden. Damit sprach er mir aus dem Herzen. Und trotzdem, warum können wir uns stundenlang unterhalten und warum knistert es so eindeutig zwischen uns? Ich bin sehr gespannt, ob er sich meldet, wenn ich zurück bin, oder ob er nach meiner verworrenen Karte das Weite sucht.
Endlich bin ich wieder zu Hause. Mein Anrufbeantworter ist voller Nachrichten, aber leider kein Zeichen von Markus. Na ja, vielleicht sind die aufgelegten Anrufe von ihm gewesen, tröste ich mich selbst und bin dennoch enttäuscht. Samstag Abend, als ich immer noch nichts höre, wähle ich seine Nummer. Er meldet sich und ist gleich hocherfreut. Lachend bedankt er sich für die Karte und erklärt, er hätte mich spätestens morgen angerufen, sobald er seine Kinder wieder nach Hause gebracht hätte. Jetzt ist mir alles klar. Er hat seine Kinder zu Besuch. Ich bin erleichtert.
In der kommenden Woche lade ich Markus zu einem Abendessen ein. Da ich ständig unterwegs bin, genieße ich es, wieder einmal zu Hause zu kochen. Am Tag unserer Verabredung ist Napirai bei der Pflegefamilie, weil es mir noch zu früh erscheint, sie mit Markus bekannt zu machen. Ich habe den Tisch schön gedeckt und als Vorspeise einen Krevettensalat vorbereitet. Nun laufe ich aufgeregt in der Wohnung hin und her und räume irgendwelche Sachen weg. Zum x-ten Mal kontrolliere ich meine Frisur und das Make-up. Habe ich auch die richtigen Kleider an? Nicht zu auffällig und trotzdem schön? Meine Güte, Corinne, du benimmst dich ja wie ein Teenager!, geht es mir durch den Kopf. Das Telefon klingelt und ich denke schon: Jetzt ist etwas dazwischen gekommen. Nein, er findet nur die Straße nicht. Völlig nervös erkläre ich ihm den Weg und kurz darauf klingelt es an der Tür.
Ich öffne und Markus springt über das ganze Gesicht strahlend mit Rosen in der Hand die fünf Stufen hoch. Wir fallen uns in die Arme und der erste innige Kuss geschieht im Treppenhaus. Beide sind wir durcheinander und so bitte ich ihn hereinzukommen. Im Wohnzimmer fällt sein Blick auf den gedeckten Tisch und nach einem Kompliment fragt er: »Da sind aber nicht etwa Krevetten drin?«
»Doch, warum?«
»Das ist so ziemlich das Einzige, was ich nicht esse, sorry. Aber das macht nichts, ich habe sowieso keinen Hunger und bin einfach glücklich hier zu sein. Ich glaube, so schnell bringst du mich heute nicht los.« Dabei zieht er mich in seine Arme.