In meiner neuen Beziehung bin ich umso glücklicher. So häufig wie möglich treffe ich Markus. Wenn ich zu Hause bin, wohnt er bereits bei uns und geht direkt von hier seiner Arbeit in Zürich nach. Hatte ich vorher noch geglaubt, ich hätte keine Zeit und keinen Platz für einen Mann in meinem Leben, so hat sich dieses Problem plötzlich in Luft aufgelöst. Napirai ist ein ausgesprochener »Fan« von Markus, wenn auch ab und zu etwas Eifersucht herauszuhören ist, wenn es zum Beispiel heißt: »Das ist meine Mama! Sie gehört mir allein!« In der Zwischenzeit haben wir auch die Kinder von Markus kennen gelernt. Nach anfänglicher Schüchternheit sind sie durch Napirais nie versiegenden Spieldrang immer entspannter geworden und bald schon spielen die drei Mädchen miteinander, als würden sie sich bereits eine Ewigkeit kennen. Mein Büro wird zu einem Gästezimmer umfunktioniert und so freuen wir uns alle auf den nächsten Besuch der beiden. Wir unternehmen viel zusammen und ich genieße mein unglaubliches Glück und bedanke mich täglich mit leisen Gebeten. Nach zwei Monaten habe ich das Gefühl, als seien wir schon seit Jahren zusammen. Natürlich hat das auch mit unserer gemeinsamen Schulzeit zu tun, über die wir mit viel Spaß stundenlang reden können. Wenn ich Lesungen in der Nähe von Zürich abhalte, treffen wir uns anschließend in der Stadt und schlendern verliebt und schmusend wie zwei Teenager durch die Gassen.
Egal was andere davon halten, für solche Gefühle braucht man sich, vor allem nach so langer Entbehrung, nicht zu schämen, auch wenn ich dabei des Öfteren erkannt werde. Mir ist es gleichgültig. Ich bin 39 Jahre alt und habe die Verantwortung für mich selber zu tragen.
Im Mai bin ich viel unterwegs oder absolviere Pressetermine. Überall sind die Säle voll und das Echo ist enorm groß. Allein bei den Weidener Literaturtagen verbringe ich sechs Tage. Es ist für mich ziemlich aufregend, mich unter »gestandenen« Schriftstellern zu bewegen oder auf Plakaten und in Prospekten zusammen mit bekannten Literaten abgebildet zu sein. Im Gegensatz zu vielen anderen, die sich freudig begrüßen, kenne ich keinen der Autoren persönlich. Viele haben schon einige Bücher veröffentlicht und sind nicht wie ich Autorin nur eines Werkes. Am Tag meiner Kurzlesung bin ich leicht nervös. Gemeinsam mit vier anderen Autoren und Autorinnen sitze ich auf der Bühne. Jeder liest ein kleines Stück aus seinem Buch vor. Erleichtert kann ich an der Reaktion des Publikums erkennen, dass mein Beitrag gut ankommt.
Zu Hause erwartet mich erneut eine Flut von Briefen. Andere gelangen direkt in den Verlag. Die ersten zirka 500 Schreiben beantworte ich noch einzeln handschriftlich, doch irgendwann schaffe ich es nicht mehr, die immer größer werdende Menge zu bewältigen, weil fast jeder Brief mit zusätzlichen Fragen verbunden ist.
Viele Schülerinnen und Schüler wählen mein Buch für Abschlussarbeiten oder Vorträge und bitten mich um Unterstützung und mehr Informationen. Diese Briefe oder Mails versuche ich immer zu beantworten, da ich selber in diesem Alter niemals den Mut hatte, einer »öffentlichen« Person zu schreiben.
Anfang Juni feiern Markus und ich zum ersten Mal gemeinsam unseren Geburtstag. Weil seiner nur zwei Tage nach meinem stattfindet, feiern wir in der Mitte. Wir laden all unsere Freunde ein. Es wird ein fröhliches Fest, an dem viele meiner Freundinnen mir zu unserem Glück gratulieren und meinen: »Corinne, so haben wir dich in den letzten neun Jahren noch nie erlebt!« Die letzten Gäste verlassen die Wohnung erst gegen Morgen.
Es folgen schöne Wochen, verbunden mit viel Arbeit, die mir nach wie vor großen Spaß macht, und wenig Freizeit, die aber intensiv gelebt wird.
Am 10. Juli 1999 fliegt mein Verleger in Begleitung eines Freundes nach Nairobi. Neben zahlreichen Fotos von Napirai und meiner Familie befindet sich in seinem Gepäck auch eine Kassette, auf die jeder Einzelne meiner Familie, einschließlich Napirai, englische Mitteilungen für James und vor allem für Lketinga und die Mama gesprochen hat. In Nairobi werden sie von Jutta und ihrem Begleiter abgeholt. Sie hat in den vergangenen Wochen alles perfekt vorbereitet. Schon im Vorfeld hat sie meine kenianische Familie in Maralal besucht und sich die Mühe gemacht, über mehrere Tage hinweg für James und Lketinga das ganze Buch in Suaheli zu übersetzen, damit sie den Inhalt endlich kennen und sich dadurch selbst ein Urteil bilden können.
Gemeinsam fliegt die kleine Gruppe mit dem Flugzeug nach Maralal, da die Zeit nicht ausreicht, die beschwerliche Zweitagesreise mit dem Bus zu machen. In der vereinbarten Samburu Lodge treffen mein Verleger und sein Begleiter James und Lketinga. Während James gleich aufgeschlossen reagiert, beobachtet Lketinga zunächst die Fremden etwas finster und misstrauisch. Erst als er die Grüße von der Kassette aus dem in Nairobi gekauften Radiorecorder hört, wird auch er lebhafter, freundlicher und natürlich auch nachdenklich. Während er den Stimmen lauscht, schaut er versunken auf die vor ihm liegenden Bilder und das Buch. Für alle Anwesenden ist dies ein bewegender Moment.
Staunen breitet sich aus über die zahlreichen Zeitungsartikel und die neueren Fotos, die viele Fragen auslösen. Stundenlang wird diskutiert, erzählt, berichtet, und James und Lketinga versichern, stolz auf das Buch zu sein, gegen das sie keine Einwendungen haben.
Am nächsten Tag wollen sie die »Mzungus« zur Mama bringen, die immer noch in der Nähe von Maralal lebt. Die Fahrt im Pick-up geht durch unwegsames Gelände in die Berge, in denen sie und ein Teil der Familie jetzt leben. Auch Mama Masulani empfängt die ihr fremden Weißen würdevoll und zurückhaltend mit verschlossenem Gesicht, während ihr Sohn James die als Geschenke mitgebrachten Vorräte an Zucker, Maismehl, Getränken und Tabak in ihrer Manyatta verstaut. Als er ihr aber die neue bunte Wolldecke über die Schultern legt und ihr die Fotos von Napirai zeigt, lächelt sie erstmals freundlich.
Beim Betreten der einfachen Hütten ist mein Verleger von der spartanischen Kargheit der fensterlosen winzigen Behausungen, in denen die Feuerstellen beißenden Rauch verbreiten, sehr berührt. Auch sieht er die Armut der hier lebenden Menschen, die wegen der anhaltenden Kämpfe immer noch nicht in ihr angestammtes Gebiet in Barsaloi zurückkehren können und nur wenig Vieh besitzen. Spontan entschließt er sich deshalb, für die Familie auf dem Markt auch einige Ziegen zu kaufen. Für James und Lketinga werden auf der Bank in Maralal Konten eingerichtet, um auf diese monatlich Geld überweisen zu können.
Am Tag des Abschieds laden die beiden »Mzungus« alle Anwesenden zu einem Essen in Maralal ein. Es kommen natürlich nur die Männer, aber es sind immerhin zirka fünfzehn Personen an einem langen hölzernen Tisch. Der Verleger, damals noch strenger Vegetarier, wundert sich nicht wenig über die aufgetischten Fleischberge, von denen bald nur noch kleine Knochenhügel übrig sind. Nach einem anschließenden Rundgang über den farbigen Markt, umringt von Scharen lebhafter neugieriger Kinder, müssen die beiden Weißen die Rückreise antreten.
Als mein Verleger und sein Begleiter, beeindruckt von ihren Begegnungen, über die Reise berichten und ich dabei die gemachten Fotos anschaue, kämpfe ich mit den aufsteigenden Tränen. Ich rieche die Menschen, das Land und sehe alle Details vor mir, die sie mir nicht zu beschreiben brauchen. Natürlich sind alle, wie auch ich, älter geworden. Aber die Unruhen, der Hunger, das harte Leben auf der ständigen Flucht und vielleicht nicht zuletzt auch die Geschichte mit mir haben sie schneller altern lassen. Lketinga ist ein graziöser, älterer »Mzee« geworden. Doch die Narben von seinem Autounfall und wohl auch der frühere Alkoholkonsum haben sein Gesicht gezeichnet. Beim Betrachten der Fotos suche ich fast vergeblich nach meinem »Halbgott« von einst.
Im August löse ich mein Versprechen gegenüber meiner Freundin Anneliese ein und wir fliegen zusammen mit Napirai in einen feudalen Jamaika-Urlaub. Wie in vielen Prospekten dargestellt, residieren wir direkt am blauen Meer mit schönem Palmenstrand. Dennoch ergreift mich persönlich dieses Land nicht. Sicherlich trägt dazu auch bei, dass ich Markus vermisse, mit dem ich erst seit knapp vier Monaten zusammenlebe. Aber automatisch vergleiche ich jedes Mal das Ferienland, in dem ich mich gerade befinde, mit Kenia, und bis jetzt habe ich keines gefunden, das in mir ähnlich starke Eindrücke auslöst. Manchmal frage ich mich, ob ich es heute immer noch so empfinden würde.