Nein, vor einem solchen Leben brauche ich mich nicht zu fürchten! Ich werde arbeiten, egal was, Hauptsache ich erhalte wieder eine Aufenthaltsgenehmigung! Gleich am nächsten Morgen beschließe ich, mich bei der Gemeinde zu erkundigen. Meine Mutter begleitet mich, da sie eine Frau aus dem Turnverein kennt, die dort arbeitet. So erfahren wir, dass ich schriftlich ein Gesuch für die Wiedererteilung der Niederlassung stellen muss, mit beigefügtem Lebenslauf. Bearbeitet wird es durch die Fremdenpolizei und da heißt es einfach abwarten. Zu Hause erledige ich das Gewünschte sofort und bin zuversichtlich, weil die Angestellten in dem Büro sehr nett waren. Meine Erfahrungen mit den Ämtern in Kenia waren da ganz anderer Art.
In den nächsten Tagen bleibt mir nichts anderes übrig, als lange Spaziergänge mit meiner Tochter zu unternehmen, um nicht ständig an Kenia zu denken. Wenn das Telefon klingelt, habe ich Angst, es könnte wieder Lketinga sein oder jemand anderer aus Kenia mit einer schlechten Nachricht. Mittlerweile müssten alle meine Briefe angekommen sein. Manchmal glaube ich fast körperlich zu spüren, welche Trauer und Aufregung bei den Betroffenen herrscht, vor allem bei meiner lieben Schwiegermama und auch bei Lketinga, da er in der Zwischenzeit wohl sicherlich begriffen hat, dass wir wirklich nicht zurückkommen. Ich kann nur auf die verschiedenen Reaktionen warten. Endlich, am 3. November 1990, erhalte ich den ersten langen Brief von James aus seiner Schule.
Liebe Corinne
Hallo, hier ist James. Wie geht es dir? Ich hoffe, deiner Familie und der lieben Schwester Napirai geht es gut. Ich habe deinen traurigen Brief erhalten, der auch mich sehr traurig machte, weil du in ihm schreibst, dass du nun in der Schweiz bist und nicht wieder in unser Dorf zurückkehren wirst. Alle hier in Barsaloi, die dich kennen, sind sehr unglücklich. Während ich dir schreibe, möchte ich weinen, obwohl ich das alles erst glauben kann, wenn ich es auf dem Gesicht meines Bruders in Mombasa gesehen habe.
Corinne, was ich jetzt von dir höre, habe ich schon in meinem Blut gespürt, als ich sah, wie unmöglich sich mein Bruder dir gegenüber verhalten hat. Doch was soll ich jetzt allen erzählen, die fragen werden, wo unsere liebe Corinne ist und warum sie gegangen ist? Es ist ein Fluch, dass du wegen Lketinga gehen musstest. Er wird in unserer Gegend sehr einsam sein. Alle sind böse auf ihn, weil sie gesehen haben, wie hart du gearbeitet hast. All die Sachen, die du ihm geben willst, werden ihn sehr verwirren. Ich will ihm helfen und alles korrekt erledigen, obwohl ich wenig Einfluss auf ihn habe. Du weißt, dass ich oft mit ihm gestritten habe, weil er so gemein zu dir, seiner Frau, war. Ohne dich ist mein Bruder jetzt eine nutzlose Person in unserer Gemeinschaft, trotz Auto und Shop. Was kann er tun mit diesem großen Shop, wo er doch, wie du weißt, Arbeit hasst? Und was soll er mit einem Auto ohne Fahrerlaubnis? Dass du ihm alles dagelassen hast, zeigt, wie du ihn von Herzen liebst. Aber er ist nicht bei Verstand und kann damit nicht umgehen. Corinne, er ist sehr verwirrt und sicher liebt er dich, aber sein Problem ist, dass er wie eine schlechte Person spricht und nicht bedenkt, was andere über sein Reden denken. Der einzige Rat, den ich ihm geben kann, ist, diesen Reichtum, den du ihm gibst, zu nutzen. Aber wie kann er den Shop verkaufen, wenn du nicht da bist? Außer du telefonierst mit dem Eigentümer, dem Inder. Ich habe meinem Bruder einen Brief geschrieben und gesagt, er solle mir Geld für die Fahrt nach Mombasa schicken, damit ich bei Schulende am 16. November zu ihm kommen kann. Wenn er mir keines schicken will, gehe ich nach Hause und verkaufe ein paar Ziegen. Dann fahre ich, um zu sehen, was er macht. Ich werde dir im November oder Dezember schreiben und berichten, wie dort alles läuft, und dir auch von zu
Hause, vor allem von Mama, erzählen.
Corinne, ich denke nicht, dass mein Bruder wieder heiraten wird, schon allein wegen dir. Ich denke, er wird sein ganzes Leben in Mombasa verbringen und von dem leben, was du ihm dagelassen hast. An seiner Stelle würde ich mich schämen, nach Hause zu gehen. Ich bin wirklich ratlos, wie ich es Mama und dem Rest der Familie sagen soll.
Ich wünsche dir, dass du einen Platz in der Schweiz oder in Deutschland finden wirst, damit wir weiterhin in Verbindung bleiben können. Ich bin sicher, dass Lketinga dich noch sehr liebt und dir nachtrauern wird. Ich werde dir alles schreiben. Bitte informiere auch du mich, wo immer du in dieser Welt sein wirst. Ich weiß, Gott liebt dich und wird dir einen guten Platz geben. Also vergiss uns nicht, denke an uns, denn du bist ein Teil unserer Familie, wo du auch bist. Wir werden dich, deine Familie und unsere innig geliebte Schwester Napirai nicht vergessen. Überlege, ob du nicht in ein paar Monaten oder Jahren zu uns kommen willst, damit wir dich sehen können, und schicke uns Fotos oder andere Dinge, die uns an dich und deine Familie erinnern. Ich versuche mein Bestes, dir etwas zu schicken, woran du sehen wirst, dass nicht alle von unserer Familie mit dir abgeschlossen haben, denn wir lieben dich. Ich bin noch eineinhalb Jahre in der Schule. Dann möchte ich arbeiten, Geld verdienen und dich zu einem Besuch bei uns einladen.
Bitte sage deinem Bruder Marc, dass das Problem nicht von meiner Familie kommt, sondern nur von Lketinga. Corinne, mit traurigem Gesicht will ich hier schließen und hoffe, bald von dir zu hören. Grüße deine ganze Familie, Marc und seine
Freundin sowie Napirai.
Ich wünsche euch allen frohe Weihnachten
Ich lasse den Brief sinken, der die noch nicht verheilten Wunden wieder aufreißt, und die Tränen strömen los. Trotz allem möchte ich auf keinen Fall, dass man Lketinga in seinem Stamm fallen lässt. Ich fühle mich elend und erneut plagen mich Zweifel. Das teile ich meiner Mutter mit, die gespannt am Tisch sitzt und mich beobachtet. Sie entgegnet energisch: »Schau dich doch mal im Spiegel an, dann wüsstest du selbst, dass es keine andere Möglichkeit gibt! Auch noch nach zwei Wochen siehst du krank aus und bist so schwach, dass du die meiste Zeit schläfst. Auf Grund deiner Hepatitis kannst du nur Diät essen und dein Kind stillst du auch noch! Wie stellst du dir das denn vor? Du musst jetzt an dich und Napirai denken! Ihr habt genug Sorgen!« Ihr energischer Ton tut mir im Moment sogar gut und ich fühle mich seit langem wieder einmal wie ein Kind, das man versucht zu behüten.
Am Nachmittag schreibe ich James zurück und bedanke mich für sein Vorhaben, Lketinga in Mombasa aufzusuchen. Für ihn ist das eine gigantische Reise. Er ist erst ungefähr 16 Jahre alt und war nur einmal mit uns in Mombasa, als wir vom Samburu-Di strikt wegzogen und die 1.460 Kilometer mit dem Auto zur Küste fuhren. Er begleitete uns, damit Lketinga und er während der holprigen Fahrt abwechselnd Napirai halten konnten. Doch jetzt wird er allein reisen müssen, was für die Menschen dort völlig ungewohnt ist, denn normalerweise sind sie mindestens zu zweit unterwegs. Die zwei- bis dreitägige Busfahrt ist teuer und wie er im Brief erwähnt, muss er sich das Geld durch Ziegenverkauf beschaffen.
Lketinga wird ihm keines schicken, da das Geld aus den Briefumschlägen verschwindet und James als Schüler kein Bankkonto besitzt. Die wenigsten Menschen, die ich dort kenne, besitzen Geld. Ihr Vermögen ist die Herde. Wenn Geld gebraucht wird, verkauft man Tiere oder auch das Fell einer geschlachteten Ziege oder Kuh und kauft damit die am dringendsten benötigten Lebensmittel. Ich hoffe, dass James es schafft und Lketinga ihm dann das Geld zurückerstatten wird.
Napirai hat sich inzwischen an die Kälte gewöhnt und leistet beim Anziehen keinen Widerstand mehr. Von meinem letzten »Notgroschen« kaufe ich uns in den verschiedenen Secondhand-Shops Winterkleider. Ich möchte meine Mutter nicht auch noch finanziell belasten. Es kostet schon genug, uns zu ernähren. Abgesehen davon kauft sie trotzdem ständig etwas für Napirai. Mit dem Hund geht es schon besser, obwohl er manchmal noch etwas unberechenbar reagiert.