Dann aber genieße ich es doch sehr, mit meiner Familie an einem wunderschön gedeckten Tisch zu sitzen und unser traditionelles Fondue Bourguignonne zu verspeisen. Beim Anblick der Platte mit der eigentlich nicht unbeträchtlichen Menge Fleisch muss ich plötzlich lachen. Weil mich die anderen verwundert anschauen, erkläre ich ihnen den Grund meiner Heiterkeit: »Wenn jetzt Lketinga hier wäre, könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses kleine Fleischhäufchen hier für alle reicht. Er kann mit einem zweiten Krieger in einer Nacht locker eine mittlere Ziege verzehren.«
»Das wäre hier, allein schon wegen des Fleischpreises, nicht möglich«, meint Hanspeter schmunzelnd. Wieder kreisen meine Gedanken um Lketinga und ich versuche mir vorzustellen, was er jetzt wohl gerade macht.
Manche Tage schleichen dahin, andere wiederum vergehen im Nu. Auch Silvester ist solch ein endlos langer Tag. Wir feiern nicht groß, jeder hängt seinen Gedanken nach. Für die nächste Zukunft wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass wir uns wieder in der Schweiz niederlassen können. Alles andere ängstigt mich nicht.
Anfang des neuen Jahres ruft mich der indische Ladenbesitzer an und erklärt, er wäre für eine Übergabe des Geschäftes bereit gewesen, aber Lketinga habe sich nun anders entschlossen und wolle weiterarbeiten. Jetzt erwarte er die dreimonatige Vorauszahlung für die Ladenmiete. Ich gebe ihm zu verstehen, dass er sich an Lketinga halten müsse. Ich habe bis Ende des Jahres bezahlt und jetzt sei Lketinga zuständig, wenn er den Shop weiterhin betreiben will. Ich habe keinen Einfluss mehr. Mein Geld sei in Kenia geblieben und alles sei meinem Mann überschrieben worden.
Der Gedanke, dass Lketinga den Laden weiterführen will, beunruhigt mich und ich hoffe sehr, dass er vielleicht eine gute Hilfskraft gefunden hat.
Genau drei Monate nach meiner Einreise in die Schweiz bekomme ich Post von der Fremdenpolizei. Mit klopfendem Herzen öffne ich den Brief, der vielleicht über mein zukünftiges Leben — vor allem in welchem Land -entscheiden wird. Aber schon nach den ersten zwei Sätzen stelle ich enttäuscht und auch etwas erleichtert fest, dass ich lediglich Auskünfte über all meine Familienmitglieder erteilen muss. Ich erledige dies in der gewünschten Genauigkeit und betone, dass die Gemeinde in keiner Art und Weise für mich aufzukommen habe, da ich bei anfallenden Schwierigkeiten von meiner Familie unterstützt würde. Außerdem hätte ich bereits konkrete Arbeitsangebote bekommen. Zuversichtlich schicke ich die Unterlagen weg. Meine Mutter ist traurig und meint, jetzt habe sie sich so an mich und Napirai gewöhnt, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn wir erneut ins Ausland ziehen müssten. »Es wird schon alles gut gehen, sonst hätten sie mich nach diesen drei Monaten gleich weggeschickt«, versuche ich sie zu beruhigen.
Ende Januar ist es so kalt, dass der nahe gelegene Pfäffikersee vollständig zugefroren ist, was höchstens alle zehn Jahre vorkommt. So gehen wir, Napirai warm auf einen Schlitten gepackt, auf dem See spazieren. Ich beobachte die vielen Menschen, die sich ausgelassen mit den seltsamsten Gefährten über das Eis bewegen. Es ist wirklich verrückt! Noch vor drei Monaten war ich am Schwitzen und lebte in einer völlig anderen Welt und heute spaziere ich auf einem zugefrorenen See. Fast täglich, bei fast allem, was ich sehe oder tue, ziehe ich automatisch Vergleiche zu Afrika. Ich blicke in die fröhlichen Gesichter von Alt und Jung, und denke daran, wie verschlossen die meisten von ihnen im Alltag sind, obwohl sie doch alles haben. Genauso fällt mir auf, wie respektlos viele jüngere Menschen mit den Alten umgehen. Vor meinem Leben in Afrika war mir dies nicht bewusst. Aber jetzt muss ich daran denken, wie es bei den Samburu ist. Dort wächst das Ansehen mit dem Alter. Die Schönheit verblüht, doch dafür wird man mehr respektiert. Je älter jemand ist, egal ob Mann oder Frau, desto gewichtiger sind seine Entscheidungen. Die Jüngeren tun nichts ohne den Segen der Alten. Wenn James in den Ferien von der Schule nach Hause kam, senkte er bei der Begrüßung der Mutter den Kopf und schaute sie nicht direkt an. Erst allmählich beim Erzählen warf er ab und zu einen kurzen Blick auf sie. Eine Massai-Großmutter ist meistens von einer Kinderschar umgeben und wird von jeder vorbeigehenden Person, ob Mann oder Frau, jung oder alt, bekannt oder unbekannt, begrüßt und unterhalten. Meiner Schwiegermama ist es nie langweilig, obwohl sie doch den ganzen Tag nur unter dem Baum vor ihrer Hütte sitzt.
Und wie ist es hier in der Schweiz? Ich nehme wahr, wie viele einsame Menschen in den Cafes oder Restaurants herumsitzen. Keiner bemerkt sie oder unterhält sich mit ihnen. Man hat materielle Dinge im Überfluss, aber Zeit füreinander und ein sozialer Zusammenhalt fehlen. Dafür kann hier fast jeder irgendwie alleine überleben. Bei den Massai in Kenia dagegen wäre das unvorstellbar.
Wir kehren nach dem Spaziergang auf dem Eis zurück und ich finde einen Brief von James vor, den er am 12. Januar geschrieben hat. Ich bin aufgeregt, weil er mir nun sicher über zu Hause und von Mama berichten wird.
Liebe Corinne und Familie
Mit großer Dankbarkeit habe ich heute deinen ausführlichen Brief erhalten. Ich habe die Fotos von Napirai, deiner Mutter und von dir angeschaut und war sehr glücklich, als ich euch sah. Ich brachte die Fotos zu Mama und sie weinte, aber ich beruhigte sie, indem ich ihr sagte, dass du hoffentlich kommen wirst, wenn ich die Schule beendet habe. Allen Leuten hier gefällt es, dich und Napirai auf den Fotos zu sehen. Ich habe der Familie berichtet, dass du nur wegen Lketinga weggegangen bist. Und sie hatten den Beweis, als ich ohne etwas für sie nach Hause kam. Sie sagten, lass ihn ruhig dort bleiben und hoffen, dass ihm bald nichts übrig sein wird von dem, was du ihm zurückgelassen hast. Corinne, ich werde nicht noch einmal nach Mombasa gehen, denn sonst bekomme ich wieder die Probleme, von denen ich dir geschrieben habe. Es ist gut, dass du den Shop verkauft hast, so dass nicht alles verloren geht. Wenn Lketinga heimkommen sollte, werde ich ihm helfen. Am 12. fahre ich von Maralal aus zur Schule. Richard hat mir geholfen und für mich ein Bankkonto in Maralal eröffnet. So kannst du uns dorthin Geld schicken, wenn du willst.
Ich habe Mama und der Familie alles erzählt, was du und deine Familie mir geschrieben habt. Einige sind enttäuscht über dein Weggehen, aber sie verstehen, dass es keine andere Möglichkeit gab. Alle haben gesagt, wenn du nach Hause kommen möchtest, auch nur für einen Besuch, dann wollen sie dich sehen. Es ist aber besser, wenn ich da bin. Ich habe auch gelesen, dass du mir Sachen schicken möchtest. Du kannst sie in die Schule schicken, das ist ganz einfach. Aber schicke keine Sachen, für die ich bei der Post viel Geld zahlen muss. Ich werde versuchen, von der Schule aus mit dir in Kontakt zu kommen. Ich werde drei Monate in der Schule sein. Giuliano und Roberto sind immer noch in Barsaloi. jetzt ist Barsaloi sehr grün und es gibt viel Milch. Unsere Familie ist nicht mehr in Barsaloi, sondern ungefähr zwei Kilometer von dort entfernt in Richtung Lpusi. Wir haben nicht mehr so viele Ziegen wie früher. Deine schwarze Ziege und die männliche mit den weißen Tupfen sind sehr groß geworden. Eines Tages in den Ferien werde ich meine Familie und die Tiere fotografieren und dir die Fotos schicken. Ich habe das kleine Radio von Lketinga bekommen und jetzt habe ich es in der Schule. Das ist die einzige gute Sache, die er mir gegeben hat. Ich habe auch ein paar von deinen Kleidern mitgenommen, vor allem Röcke, die Mama jetzt anzieht. Ich habe sie gestohlen, als ich ging, weil Lketinga sie mir nicht geben wollte.
Schreibe mir bitte die Adresse von deinem Bruder
Marc, so dass ich ihm auch ein paar Worte von mir und meiner Familie schicken kann, damit er uns nicht vergisst. Wenn er nach Barsaloi kommen möchte, wie wir das einmal besprochen haben, bin ich bereit, ihn willkommen zu heißen und herumzuführen. Viele Grüße an die Familie und alle Freunde und unsere liebe Schwester Napirai. Ich bete immer ganz fest, dass du Erfolg haben wirst in deinem Leben in der Schweiz.