D'Artagnan begab sich wirklich auf den Weg, allein, ohne eine andere Bedeckung als sein Schwert, und mit einem einzigen Schreiben Mazarins, ihn durchzulassen, bis er zur Königin gelange. Sechs Stunden nach seiner Abreise von Pierrefonds befand er sich schon in Saint-Germain.
Das Verschwinden Mazarins war noch nicht bekannt; die Königin Anna wußte allein darum, und verbarg ihren Vertrautesten ihren Kummer. Man hatte in d'Artagnans und Porthos' Zimmer die zwei gefesselten und geknebelten Soldaten wieder gefunden, und gab ihnen auf der Stelle den Gebrauch der Glieder und der Sprache wieder, allein sie konnten nichts weiter sagen, als das, was sie wußten, wie sie nämlich ergriffen, gebunden und entkleidet worden waren. Was aber d'Artagnan und Porthos taten, nachdem sie da hinausgestiegen, wo die Soldaten hineingekommen waren, darüber waren sie eben so unwissend wie alle anderen Schloßbewohner. Nur Bernouin wußte hierüber ein bißchen mehr als die anderen. Als Bernouin seinen Herrn nicht zurückkommen sah und Mitternacht schlagen hörte, unternahm er es, in die Orangerie zu dringen.» Die erste mit Geräten verrammelte Türe erregte in ihm schon einigen Verdacht; doch wollte er diesen Verdacht noch niemandem mitteilen und bahnte sich einen Durchgang durch all dieses Zeug. Hierauf gelangte er in den Korridor und fand da alle Türen geöffnet. Ebenso verhielt es sich mit der Türe vor Athos' Zimmer und jener des Parkes. Als er dort ankam, war es ihm ein leichtes, den Fußspuren auf dem Schnee zu folgen. Er sah, daß diese Tritte an der Mauer endeten; auf der andern Seite fand er wieder dieselben Fußstapfen; dann die Huftritte der Pferde, dann die Spuren einer ganzen Reiterschar, die sich in der Richtung von Enghien hinzogen. Da blieb ihm denn kein Zweifel mehr übrig, daß der Kardinal von den drei Gefangenen entführt worden sei, da die drei Gefangenen mit ihm entschwunden waren, und so eilte er nach Saint-Germain, um der Königin dieses Verschwinden zu melden.
Die Königin Anna hatte ihm Stillschweigen aufgetragen, und Bernouin leistete gewissenhaft Folge; nun ließ sie den Prinzen kommen, und teilte ihm alles mit, und der Prinz schickte sogleich fünf- bis sechshundert Reiter mit dem Befehle aus, die ganze Umgebung zu durchsuchen, und jede verdächtige Truppe, die sich in was immer für einer Richtung von Rueil entfernte, nach Saint-Germain zurückzuführen. Da aber d'Artagnan keine Truppe bildete, sondern allein war, da er sich nicht von Rueil entfernte, sondern nach Saint-Germain ging, so achtete seiner niemand, und seine Reise blieb ganz ungestört. Als unser Botschafter in den Hofraum des alten Schlosses hineinritt, war die erste Person, die er erblickte, Meister Bernouin selber, der an der Schwelle stand und Nachrichten über seinen verschwundenen Herrn erwartete. Bei d'Artagnans Anblick, der in den Ehrenhof ritt, rieb sich Bernouin die Augen und meinte, sich zu irren; allein d'Artagnan gab ihm mit dem Kopfe einen freundschaftlichen Wink, stieg ab, warf den Zügel seines Pferdes dem Arme eines vorbeigehenden Dieners zu, schritt zu dem Kammerdiener hin und begrüßte ihn mit lächelndem Munde. »Herr d'Artagnan,« rief dieser aus, wie jemand, der einen schweren Traum hat, und im Schlafe spricht, »Herr d'Artagnan.« »Ich bin es, Herr Bernouin!« »Und was wollen Sie hier tun?« »Nachrichten von Herrn von Mazarin überbringen, und zwar die neuesten.« »Was ist denn aus ihm geworden?« »Es geht ihm so wie mir und Euch.« »Ist ihm also nichts Widerwärtiges begegnet?« »Ganz und gar nichts; er fühlte nur die Luft zu einem Ausfluge nach Isle-de-France, und ersuchte uns, den Herrn Grafen de la Fere, Herrn du Vallon und mich, ihn zu begleiten. Wir waren zu sehr seine Diener, um eine solche Bitte abzuschlagen. Gestern abends brachen wir auf, und hier bin ich jetzt.« »Hier sind Sie!« »Seine Eminenz hat Ihrer Majestät etwas Geheimes und Vertrauliches mitzuteilen, und da diese Sendung nur einem zuverlässigen Manne anvertraut werden konnte, so schickte er mich nach Saint-Germain. Wollet Ihr also etwas tun, lieber Herr Bernouin, was Eurem Gebieter angenehm ist, so meldet Ihrer Majestät, daß ich angekommen sei und sagt ihr, zu welchem Ende.« Ob er nun ernstlich gesprochen, oder ob das, was er sagte, nur ein Scherz gewesen, so machte doch Bernouin, da d'Artagnan augenscheinlich unter den gegenwärtigen Umständen der einzige Mann war, der die Königin Anna von ihrem Kummer befreien konnte, gar keine Schwierigkeit, ihr diese seltsame Sendung zu melden, und die Königin gab ihm, wie er vorausgesehen, den Befehl, Herrn d'Artagnan sogleich einzuführen. D'Artagnan näherte sich seiner Souveränin mit allen Zeichen tiefster Ehrerbietung. Drei Schritte von ihr entfernt setzte er ein Knie auf den Boden und überreichte ihr den Brief. Wie schon erwähnt, war dieser Brief ein einfaches, halb ein Einführungs-, halb ein Beglaubigungsschreiben. Die Königin las es, erkannte genau die Handschrift des Kardinals, wiewohl es eine bebende Hand verriet, und da ihr der Brief nichts von dem meldete, was vorgefallen war, so fragte sie ihn um die näheren Umstände. D'Artagnan erzählte ihr alles mit jener offenen und einfachen Miene, die er sich unter gewissen Umständen so gut zu geben verstand. »Wie, mein Herr,« rief die Königin, entglüht vor Entrüstung, als d'Artagnan seine Erzählung beendigt hatte, »Ihr wagt es mir Euer Verbrechen einzugestehen, mir Euren Verrat mitzuteilen?« »Um Vergebung, Madame! Es dünkt mich aber, daß ich mich entweder falsch ausgedrückt, oder daß mich Ihre Majestät falsch verstanden hat; hierbei gibt es weder ein Verbrechen noch einen Verrat. Herr von Mazarin hielt uns, mich und Herrn du Vallon, gefangen, weil wir es nicht glauben konnten, daß er uns nach England schickte, um ganz ruhig König Karl I., dem Schwager des seligen Königs, Ihres Gemahls, dem Gatten der Königin Henriette, Ihrer Schwester und Gastin, den Kopf abschlagen zu sehen, und daß wir alles getan haben, was wir konnten, um das Leben des königlichen Märtyrers zu retten. Somit waren ich und mein Freund überzeugt, daß da irgend ein Irrtum obwalte, dessen Opfer wir wären, und daß es zwischen uns und seiner Eminenz zu einer Erklärung kommen müsse. Damit nun aber eine Erklärung ihre Früchte trüge, müsse sie ruhig, fern von Geräusch und von Unberufenen geschehen. Demgemäß haben wir den Herrn Kardinal auf das Schloß meines Freundes gebracht, und dort haben wir uns erklärt. Nun denn, Madame, was wir vorausgesehen, ist wahr gewesen. Herr von Mazarin war der Meinung, wir hätten dem General Cromwell gedient, statt dem Könige Karl, was eine Schmach gewesen wäre, die von uns auf ihn und von ihm auf Ihre Majestät hätte fallen müssen; eine Ruchlosigkeit, welche das Königtum Ihres erlauchten Sohnes bis ins Mark hinein würde gebrandmarkt haben. Wir lieferten ihm jedoch den Beweis vom Gegenteil und sind bereit, diesen Beweis Ihrer Majestät selbst zu liefern mit Berufung auf die erhabene Witwe, welche im Louvre weint, wo sie Ihre königliche Freigebigkeit bewirtet. Dieser Beweis stellte ihn derart zufrieden, daß er mich, wie es Ihre Majestät sieht, abgeschickt hat, um über die Schadloshaltungen zu sprechen, die natürlicherweise Edelleuten gebühren, welche falsch beurteilt und mit Unrecht verfolgt worden sind.« »Ich höre Euch mit Bewunderung an,« versetzte die Königin Anna. »In der Tat, ich sah noch selten solch' ein Unverschämtheit!« »Ha doch,« erwiderte d'Artagnan, »nun irrt sich auch Ihre Majestät über unsere Gesinnungen, wie es Herr von Mazarin getan hat.« »Ihr seid im Irrtum, mein Herr,« sprach die Königin, und ich irre mich so wenig, daß Ihr in zehn Minuten verhaftet sein werdet und ich an der Spitze eines Heeres zur Befreiung meines Ministers ausziehen werde.« »Ich bin versichert,« entgegnete d'Artagnan, »Ihre Majestät werde eine solche Unvorsichtigkeit nicht begehen, weil sie fürs erste nutzlos wäre und dann die gefährlichsten Folgen haben könnte. Der Herr Kardinal wäre tot, ehe er noch befreit würde, und Seine Eminenz ist von der Wahrheit dessen, was ich da sage, so sehr überzeugt, daß er mich für den Fall, als ich Ihre Majestät in dieser Stimmung sehen sollte, gebeten hat, alles zu tun, was ich nur vermag, um Sie von diesem Vorhaben abzubringen.« »Wohlan, so will ich nichts weiter tun, als Euch verhaften lassen.« »Auch das nicht, Madame, denn der Fall meiner Verhaftung ist eben so gut vorausgesehen als jener der Befreiung des Kardinals. Wenn ich morgen bis zu einer bestimmten Stunde nicht zurückgekehrt sein werde, so wird man übermorgen den Herrn Kardinal nach Paris führen.« »Mein Herr, man sieht es wohl, wie Ihr in Eurer Stellung fern von den Menschen und den Ereignissen lebt, indem Ihr sonst wissen würdet, daß der Herr Kardinal schon fünf- bis sechsmal in Paris war, seit wir es verlassen haben, daß er Herrn von Beaufort, Herrn von Bouillon, den Herrn Koadjutor und Herrn von Elboeuf gesehen, und daß nicht einer daran gedacht hat, ihn verhaften zu lassen.« »Um Vergebung, Madame, ich weiß das alles; meine Freunde werden somit auch den Herrn Kardinal weder zu Herrn Beaufort, noch zu Herrn von Bouillon, noch zu dem Koadjutor, noch zu Herrn von Elboeuf führen, da diese Herren nur für ihre eigene Rechnung Krieg führen, und der Herr Kardinal leicht mit ihnen fertig würde, wenn er ihnen das zugesteht, was sie verlangen; sondern vor das Parlament, welches sich wohl sicher im einzelnen erkaufen läßt, das aber Herr von Mazarin bei all seinem Reichtum nicht ganz erkaufen könnte.« »Mich dünkt,« sprach die Königin Anna, während sie ihren Blick, der verächtlich bei einer Frau und schrecklich bei einer Königin wurde, auf d'Artagnan heftete, »mich dünkt, daß Ihr der Mutter Eures Königs drohet!« »Madame,« erwiderte d'Artagnan, »ich drohe, weil man mich dazu nötigt. Ich erhebe mich, weil ich bis zur Höhe der Ereignisse und der Personen hinaufreichen muß. Doch glauben Sie nur eines, Madame, das eben so wahr ist, als es noch ein Herz gibt, das in dieser Brust für Sie schlägt, glauben Sie, daß Sie der beständige Abgott unseres Lebens waren, welches wir - mein Gott, Sie wissen es wohl - zwanzigmal für Ihre Majestät eingesetzt haben. O, Madame, sagen Sie nun, sollte denn Ihre Majestät kein Mitleid mit Ihren Dienern fühlen, die seit zwanzig Jahren kümmerlich in der Dunkelheit gelebt, ohne daß sie in einem einzigen Seufzer die heiligen und feierlichen Geheimnisse entschlüpfen ließen, die sie, mit Ihnen zu teilen, so glücklich waren? Würdigen Sie mich eines Blickes, Madame, mich, der zu Ihnen spricht, mich, den Ihre Majestät beschuldigt, daß ich die Stimme erhebe und einen drohenden Ton annehme? Wer bin ich? Ein armer Offizier, ohne Vermögen, ohne Obdach, ohne Zukunft, wenn der Blick der Königin, den ich so lange gesucht, nicht einen Moment auf mir ruht. Betrachten Sie den Herrn Grafen de la Fere, ein Vorbild des Adels, eine Blume der Ritterschaft, er nahm Partei gegen seine Königin - nicht doch, er nahm vielmehr Partei gegen ihren Minister, und wie ich glaube, macht dieser keine Ansprüche. Sehen Sie endlich, Herrn du Vallon, dieses getreue Herz, diesen ehernen Arm, er erwartet schon seit zwanzig Jahren ein Wort aus Ihrem Munde, das ihn durch das Wappen zu dem macht, was er durch Gesinnung und Tapferkeit ist. Blicken Sie endlich auf Ihr Volk, das Sie liebt und doch leidend ist; das Sie lieben, das aber nichtsdestoweniger hungert; das nichts lieber will, als Sie segnen, das Sie aber doch . . Nein, ich habe Unrecht. Ihr Volk wird Sie niemals verwünschen, Madame. Nun denn, Madame, sprechen Sie ein Wort, und alles ist abgetan, der Friede folgt dem Kriege, die Freude den Tränen, der Jubel dem Jammer!«