Jutta Speidel / Bruno Maccallini
Zwei Esel auf Sardinien
Ein deutsch-italienisches Abenteuer
FÜR ALLE »ESEL« AUF GOTTES ERDBODEN
Prolog
Auftakt
Jutta
Wahrnehmung und Erwartungshaltung bedeuten jede Menge Konfliktstoff für eine Beziehung. Vor allem, wenn die beiden Liebenden so gar nicht konfliktscheu sind! Planen diese zwei dann noch eine gemeinsame Unternehmung, kann es ganz schön turbulent werden.
Damit erzähle ich Ihnen ja wohl nichts Neues, ich gebe auch nicht vor, einen revolutionär neuen Denkansatz gefunden zu haben, aber dennoch erstaunt es mich immer wieder.
Es liegt auch gar nicht daran, dass mein Lebenspartner und ich nicht zusammenpassen, nein, es liegt an unseren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erwartungshaltungen! Da jeder von uns eine Situation subjektiv wahrnimmt und dann nach seinen jeweiligen Empfindungen handelt, stößt er unweigerlich bei dem anderen auf Widerstand. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass diese beiden emotionsüberfrachteten Verhaltensmuster, die unser Verhalten bestimmen, auf Kriegsfuß miteinander stehen.
Gestern zum Beispiel habe ich für unser Münchner Zuhause einen Weihnachtsbaum gekauft. Geschlachtet im bayrischen Voralpenwald, duftend und knackig frisch, hat man ihn mir ins Netz gezogen. Bruno, mein italienischer Lebensgefährte, strich währenddessen um sämtliche kleineren Bäumchen herum, um endlich mit einem immerhin ein Meter zwanzig hohen Baum mit ausladenden Zweigen anzukommen.
»Ein bayrischer Weihnachtsbaum auf einer römischen Großstadtterrasse, wow, das wär’s doch! Was meinst du, tesoro?« Ja, was sollte ich groß meinen? Doch wie soll das Kerlchen auf die Terrasse kommen?
So, und damit sind wir genau an dem Punkt, von dem ich vorher gesprochen habe.
ER (Wahrnehmung): Will auch einen Baum!
(Erwartungshaltung): Du musst mir helfen, ihn im Flieger nach Rom zu bringen!
SIE (Wahrnehmung): Oje, jetzt will er von hier so einen wuchtigen Baum nach Rom schleppen!
(Erwartungshaltung): Na, da soll er sich mal schön selbst drum kümmern!
Aber so funktioniert es halt nicht in einer Partnerschaft. Bruno hat sich schließlich bereit erklärt, mein kleines Köfferchen mitzunehmen, und ich, die ich drei Stunden später nach Rom fliege, nehme den Baum. Seiner Wahrnehmung zufolge bin ich erstens geschickter im Stewardessenbezirzen, so eine faule Ausrede! Und zweitens ist – laut Bruno – der Transport des Baums viel einfacher, als zwei kleine Köfferchen zu ziehen. Obendrein erwartet der Gute, dass ich diese Situation, wie so viele andere zuvor, souverän meistere, denn er sei schließlich prädestiniert zu scheitern.
Soll ich Ihnen jetzt, während ich mit dem Baum in der Sicherheitskontrolle vor unbezirzbaren Sicherheitsbeamten stehe und abblitze, meine Erwartungshaltung mitteilen? Ja, Sie lachen und sagen, ich sei ein Esel! Recht haben Sie, absolut, aber was hilft’s? Bruno erwartet, dass ich mit dem Baum heil in Rom ankomme und ihn auch noch römisch-kitschig schmücke!
Na dann – »O du Fröhliche«!
Erzählen will ich aber eine ganz andere Geschichte. Dies ist nur der Auftakt. Sie werden bald verstehen, warum es mir so wichtig ist, alles Nachfolgende unter diesen beiden Gesichtspunkten zu sehen: Wahrnehmung und Erwartungshaltung.
Der fremde Cousin
Bruno
Der Anruf erreicht mich Anfang Januar um fünf vor acht, kurz vor den Nachrichten. Jutta und ich haben die Weihnachtstage in meiner Wohnung in Rom verbracht. Zum Glück hat sie meinen Weihnachtsbaum mit ins Flugzeug bekommen – als Sperrgepäck! Ich wusste doch, dass sie es schafft.
Meine Pizza steht dampfend auf dem Couchtisch und wartet auf mich. Das darf ich mir nicht entgehen lassen: Die neueste Meldung über den hundertsten Sexskandal unseres Hardcore-Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi ist zu bestürzend und deftig, als dass man sie ignorieren könnte. Ich mache es mir auf dem Sofa bequem und … DRRIIINNG … Wenn das wieder diese Callcenter-Tante von Bofrost ist, oder schlimmer, der Schwätzer von der Telecom, dann zeige ich sie an. Diese Telefonverkäufer sind eine einzige Pest. Gleich das erste »Ja?«, mit dem ich mich melde, muss also bedrohlich klingen. Schweigen am anderen Ende. Dann höre ich nur noch das Besetztzeichen. Prima, wer auch immer das war, hat verstanden und aufgelegt. Ich beiße in das erste Stück meiner Pizza und – DRIINNGGG! Schon wieder!
»Hallo?« Diesmal gebe ich mich etwas zugänglicher. Am anderen Ende sagt eine etwas schrille, aber höfliche Stimme schüchtern:
»Hallo, Bruno, bist du’s? Weißt du, wer ich bin …?«
»Wer spricht da?«
»Ich bin’s, Maurizio, dein Cousin …«
Schweigen. Das trifft mich. Ich möchte jetzt nicht mehr gemütlich in meinem Sofa versinken, sondern vor Scham im Erdboden – und das nicht nur, weil ich die Stimme meines Cousins nicht gleich erkannt habe, sondern mich in diesem Moment nicht einmal an sein Gesicht erinnere! Na ja, er ist schließlich nur ein Cousin dritten Grades, was will man da erwarten?
»Maurizio … Maurizio, DU bist das? Ja, wie lange ist das denn jetzt her …??«
»Tante Ada hat mir deine Nummer gegeben, also eigentlich hatte ich es schon auf Facebook versucht, aber du hast meine Freundschaftsanfrage nie bestätigt …«
Wie peinlich! Maurizio, der wahrscheinlich meine Verlegenheit bemerkt hat, stürzt sich in einen zehnminütigen Wortschwall und zündet sich dazu eine Zigarette nach der anderen an. Ich unterbreche ihn nicht. Er kommt von einem zum anderen: Erst erzählt er von seinem Peter-Pan-Syndrom, dann von seinem Studium an einer Elite-Uni in Rom, seinem Abschluss summa cum laude in Pharmakologie, dem Master in Chemie an der Berkeley-Universität in Kalifornien, seinen Forschungen über die Fotochemie der DNA, seinen Patenten und wie man ihn bei Fragen zur Nukleinsäure hinzuzieht, seinen Büchern und Preisen, internationalen Ehrungen, schließlich sogar, dass er mit Bono (ja genau, dem Bono!) befreundet ist und – von seiner bevorstehenden Hochzeit!
»Das ist ja wunderbar, du heiratest? Wer ist die Glückliche?«
»Giulia. Wir sind seit fünf Jahren zusammen. Sie ist fünfzehn Jahre jünger als ich, lebt auch in Rom, aber ihre Familie kommt aus Sardinien.«
»Das ist ja fabelhaft, Maurizio, ich freu mich wirklich für dich. Und ich seh dich immer noch in diesen unmöglichen hautengen Jeans vor mir! Tja, lang ist’s her. Und jetzt bist du ein international anerkannter Chemiker und sogar mit Bono befreundet!«
»Hmm, ja, wir haben uns in München kennengelernt.«
»In München?«
»Ja, er wurde dort an der Wirbelsäule operiert, ein böser Unfall während der Proben, aber jetzt geht es ihm wieder gut. Sein Arzt ist ein guter Freund von mir und hat mich ihm während seiner Reha vorgestellt. Um ihn aufzumuntern, habe ich ihm dann einige von meinen Kondomwitzen erzählt, weißt du noch?«
»Na klar erinnere ich mich!«
»Er hat sich weggeschmissen, und so haben wir gleich unsere Handynummern ausgetauscht.«
»Was hast du denn in München gemacht? Ich bin oft dort. Meine Lebensgefährtin ist Deutsche.«
»Sì, sì, ich weiß … Ich weiß alles … Irgendwann wirst du mir deine berühmte Jutta Speidel doch vorstellen, oder? Also, willst du mein Trauzeuge sein?«
Ich bin heftig versucht, spontan nein zu sagen.
»Aber ja doch, gern … Wann denn?«
»Wir heiraten im Oktober, in Gesturi, du weißt schon, das Land der Nuraghen. Es ist wunderschön dort, warst du schon mal da? Wir werden feiern, feiern und feiern!« Nachdem wir noch eine Weile geplaudert und uns dann verabschiedet haben, schalte ich den Fernseher aus und schiebe meine Pizza noch mal in den Ofen, denn inzwischen ist sie kalt geworden. Ich erinnere mich an den Wunschtraum meiner Jugendzeit: Ich wollte damals unbedingt auf den Komoren heiraten, da ich irgendwo gelesen hatte, Hochzeiten auf den Inseln vor den Küsten von Mosambik und Madagaskar würden auf besondere Weise gefeiert. Ich war vollkommen fasziniert von der dort sogenannten »Grand Mariage«, die bis zu neun Tage dauern kann und an der die ganze Dorfgemeinschaft teilnimmt.