Zu allem Überfluss setzen sich im Zuge des Sonnenuntergangs jetzt auch noch Mücken auf meine nackten Beine. Aber nicht nur auf die Beine, Sekunden später attackieren sie auch meine Arme, stechen in meine Kopfhaut, und ich schlage um mich, was sehr meiner derzeitigen inneren Haltung entspricht. Ich verstehe einfach nicht, warum wir jetzt nicht fahren können, hier versäumen wir ja nun wirklich nichts mehr.
Anscheinend bin ich die Einzige hier, die sich nicht wohl fühlt, aber meine Befindlichkeit interessiert absolut niemanden. Die drei amüsieren sich prächtig, als wären sie schon Jahrzehnte befreundet. Bruno, der eigentlich viel Heiklere von uns beiden, mampft und trinkt, was das Zeug hält. Ganz still werde ich. Unscheinbar sitze ich zwischen den anderen, und wenn nicht hin und wieder für einen Moment Brunos Hand die meine suchen würde, könnte ich mich auflösen. Die drei befinden sich in einer anderen Welt, zu der ich keinen Zutritt habe. Ich verstehe ihre Sprache nicht, und niemand bezieht mich ein. Ich bin ein unbequemer Außenseiter, der ihnen das Spiel verdirbt. Da haben wir es mal wieder: Wahrnehmung und Erwartungshaltung! Bruno scheint von alldem nichts zu merken.
So kenne ich ihn gar nicht. In München sucht er immer sehr meine Nähe, um sich ja nicht allein zu fühlen. Er will eingebunden sein, über alles Bescheid wissen. Hier, so scheint es, ist er in seinem Element. Von Minute zu Minute wird er betrunkener. Er lallt schon ein bisschen, und das hat nichts mit dem Dialekt zu tun. Auch Claudio scheint nicht mehr ganz so sicher auf den Beinen zu sein.
Bis auf mich haben alle brav aufgegessen, und mit leicht traurigem Blick bemerkt es Anna, während sie das Geschirr zusammenstellt, um es in die Küche zu tragen. Ich bin froh, aufstehen zu können, und folge ihr. Vorsichtig versuche ich ihr beizubringen, dass wir gerne fahren würden, und ob sie nicht mit Claudio sprechen könnte, aber Anna winkt heftig ab, in solche Angelegenheiten mischt sie sich grundsätzlich nicht ein. Die würden schon noch fahren, da solle ich mir keine Sorgen machen. So jedenfalls interpretiere ich ihre Worte.
Mir ist kalt, und ich fühle mich erschöpft. Mühsam versuche ich meine Augen offen zu halten. Zu lange schon bin ich heute auf den Beinen, viel habe ich erlebt. In meiner Handtasche habe ich eine Nylonstrumpfhose, die ich sicherheitshalber zum Schutz gegen die Klimaanlage im Flieger eingesteckt habe, die ziehe ich nun an. Jetzt rutsche ich zwar in meinen Sandaletten herum, aber ich habe auch nicht vor, heute noch eine Wanderung zu unternehmen. Ich setze mich auf den einsamen Schemel im Steinhaufen, Anna redet unaufhörlich auf mich ein, und ich nicke ab und an freundlich. Irgendwann streift mich etwas am Arm, ich muss eingeschlafen sein.
»Signora Udda, prego, vieni qui.« Sie nimmt meine Hand, und wir gehen hinaus in die stockfinstere Nacht. Sie führt mich quer über den Hof, an den Ziegen und Wildschweinen vorbei, von denen nur ein Grunzen zu hören ist, zu einem Holzverschlag. Dort nimmt sie ein Bündel Stroh vom Haufen und breitet es notdürftig auf dem Boden aus, legt eine Decke darüber, und mit einem beruhigenden »Dormi bene« verschwindet sie in der Dunkelheit.
Kläglich rufe ich nach Bruno, aber keiner hört mich. Irgendwo meine ich, seine Stimme zu vernehmen. Während ich Kraft sammle, um aufzustehen, damit ich nach ihm suchen und Claudio dazu bewegen kann, uns endlich zu seinem Bruder zu bringen, schlafe ich erschöpft ein.
Zu Gast bei Claudio und Anna
Bruno
Bis zu unserer Ankunft auf Sardinien gab es für Jutta fünf Gründe, warum eine Frau besser ohne mich zurechtkommt: Erstens lebte sie länger und intensiver. Zweitens müsste sie nicht ständig an sich selbst zweifeln, wenn sie mal keine Lust auf Zweisamkeit hat. Drittens hätte sie etwas Besseres zu tun, als sich über Satellitenschüssel italienische Parlamentssitzungen anzusehen. Viertens müsste sie sich nicht mehr um meine schmutzigen Socken kümmern. Fünftens könnte sie sich dann endlich wieder nach Lust und Laune in ihrer eigenen Sprache ausdrücken und sicher sein, dass ihr Gegenüber sie auch versteht.
Seit heute gibt es mindestens einen weiteren: Sie könnte endlich allein reisen und frei entscheiden, wohin es gehen soll.
Während ich versuche, mich mit der Situation abzufinden, befürchte ich, dass Jutta noch heute eine Aussprache mit mir über das Ende unserer Beziehung beginnen will. Als Claudio uns kurz vor Sonnenuntergang durch seinen Stall führt und uns all die Ziegen, Schafe, Schweine und Hühner, die sein Eigen sind, zeigen will, blickt Jutta missmutig drein und sagt kein Wort. Ich weiß, dass sie mich sehr liebt, aber heute scheint sich alles gegen uns verschworen zu haben. Ihre Laune bessert sich ein wenig, als einer der beiden Esel von einem Nickerchen aufwacht. Jutta streichelt ihn. Das letzte Mal habe ich das während eines Auftritts bei »Stars in der Manege« in München vor ein paar Jahren erlebt. Ich erinnere mich, dass ich bei dieser Gelegenheit ebenfalls versucht habe, den Esel zu kraulen, aber der sträubte sich und ließ keine Streicheleinheiten zu. Doch bei Jutta scheint es anders zu sein. Claudio macht mich darauf aufmerksam, wie gut der Esel auf ihr Streicheln reagiert. Er sagt, wenn wir eine Beziehung zu einem Esel aufbauen wollen, müssen wir uns als Erstes vor Augen halten, dass wir es eigentlich mit einem Opfer zu tun haben, für das wir das Raubtier sind. Also sei es äußerst wichtig, dass unser Verhalten sofort Freundschaft, Sanftheit und Geduld vermittele.
»Deine Signora ist sehr begabt, schau mal, wie sich der Graue von ihr streicheln lässt!«
Auch ich staune. Ein altes Sprichwort lautet: »Wer einen Esel streichelt, erntet Fußtritte.« Wie schafft es Jutta dann, so leicht sein Vertrauen zu gewinnen? Ist das vielleicht wirklich eine Naturbegabung? In aller Seelenruhe stopft unsere Eselflüsterin das Tier nun mit Möhren und Äpfeln voll. Na, vielleicht hat sie nach so ein bisschen »Eselei« wieder gute Laune? Und genauso ist es. Ein unvermuteter Eselsschrei – und sie lächelt wieder.
Claudio behauptet, Sarden seien ein ganz besonderes Volk. Bei den vielen Besetzungen der Insel hätten sie von den Arabern die durchdringend blickenden Augen mitbekommen, von den Spaniern den mediterranen Teint und von den Römern den Stolz. Selbstverständlich habe es auch mit der Ernährung zu tun, denn Sardinien sei eine der Regionen mit der meisten ökologischen Landwirtschaft. Außerdem spiele der Lebensstil eine Rolle. Die wenigsten Menschen gingen einer sitzenden Tätigkeit nach; er zum Beispiel sei ständig auf den Beinen, gehe mit den Schafen auf die Weide, arbeite im Garten, ernte Obst mit der Hand und melke von morgens bis abends die Ziegen. Und zuletzt sei da noch der Humor. »Sarden gelten als ungehobelt, aber wer sie kennt, weiß, dass das nicht stimmt. Sie sind fröhliche Menschen und sehr gesellig.«
Als wir in den Garten zu den Olivenbäumen zurückkehren und es plötzlich köstlich nach Essen duftet, ist alles Unglück vergessen – das lange Warten am Flughafenterminal, der Streik, die zu niedrigen Milchpreise und das fehlende Gepäck. O ja, wir haben Hunger, und wie!! Schon bald sitzen wir an einem schönen, reichlich gedeckten Tisch, auf dem Pan Carasau bereitsteht, das typische sardische Brot, das man auch unter dem italienischen Namen Carta musica kennt, weil es so besonders dünn und knusprig ist. Daneben ein Fläschchen mit Öl, Brotfladen aus Hartweizengrieß, und Schmalz, Wurst und Ricotta sind auf Korkplatten angerichtet. In der Mitte des Tisches steht eine große Schüssel mit dampfenden Spaghetti. Claudio betont, dass er sie höchstpersönlich mit bottarga di muggine, dem getrockneten Rogen der Meeräsche, zubereitet hat, eine Spezialität, die auch »Kaviar des Mittelmeers« genannt wird.