Anna möchte, dass ich unbedingt vom casu marzu probiere, einem Käse mit lebenden Maden drin!!! Natürlich graust es mich allein schon bei der Vorstellung. Der Käse, ein reifer, pikanter Pecorino, entsteht auf ganz natürliche Weise durch die sogenannte Käsefliege. Dieses Insekt schenkt zahlreichen Maden das Leben, indem es seine Eier in der Käseform ablegt, und diese ernähren sich dann vom Käse und wandeln ihn durch ihre Verdauungssäfte um. Als Anna mein angewidertes Gesicht bemerkt, weist sie mich mit Nachdruck darauf hin, dass er keineswegs schädlich, sondern im Gegenteil ein reines Naturprodukt sei, im Gegensatz zu vielen industriell hergestellten Käsesorten. Bestimmt hat sie recht, aber ich ziehe die Pasta hier vor und freue mich schon, dass meine Kiefer ordentlich zu tun bekommen.
»Bruno hat mir erzählt, dass ihr hier auf Sardinien ein Nationalgericht habt – ›Schaf im Mantel‹. Was genau ist das?«, fragt Jutta.
»Das ist unser spezieller Schmortopf. Normalerweise ist Schaf ein wenig zäh, aber wenn man es schmort, wird es zarter. In den Topf geben wir die Kartoffeln, die in der Schale gekocht werden, mit einer großen Menge Zwiebeln, die sie bedecken, also der Mantel sind.«
»Ich liebe Zwiebeln, die essen wir in Deutschland ständig. Aber dein neuer Freund hier mag sie gar nicht …«
»Bruno! Du isst keine Zwiebeln? Was muss ich da hören?«
»Tut mir leid, ich vertrage sie nicht. Weder Zwiebeln noch Sauerkraut.«
»Und da musstest du dir ausgerechnet eine Deutsche suchen?«
»Bei ihr kann ich alles essen. Gulasch, Bratwurst, sogar Krapfen, weißt du, das sind diese frittierten Teigballen, die wir auch in Italien essen. Aber Zwiebeln, nein, es gibt Grenzen. Ganz zu schweigen von Zwiebelkuchen. Wenn sie den macht, bekomme ich allein vom Anblick Magenkrämpfe! Dann schon lieber Nürnberger Rostbratwürstchen.«
»Ja, das muss man schon mögen«, kommentiert Claudio.
»Und der Wein, ist der auch von hier?« Wieder Jutta.
Claudio nickt. »Er heißt Nuraghe, wie die Steintürme, die man auf dem Weg nach Gesturi sehen kann. Wenn ihr unterwegs in einem Ort namens Su Nuraxi haltmacht, könnt ihr den bedeutendsten und schönsten Nuraghe Sardiniens besichtigen. Diese Bauten sollen bis ins Jahr 1600 vor Christus zurückgehen, es sind etwa siebentausend mehr oder weniger erhaltene Türme, und sie sind das Wahrzeichen unserer alten Kultur. Mein Bruder besitzt in Ussana, etwa drei Kilometer von hier, einen eigenen Weinberg. Was wollt ihr morgen eigentlich am Flughafen? Geht lieber gleich zu ihm, leiht euch seinen Wagen, um zu der Hochzeit zu kommen, und nehmt noch eine schöne Kiste neuen Wein mit!«
Wir lachen, trinken und essen.
Guter Wein macht gute Laune, sagt ein altes italienisches Sprichwort, und mittlerweile ist es schon nach acht. Während Claudio redet und seine Späßchen macht, entferne ich mich einen Moment …
Langsam steige ich die Stufen zum Haus hinauf, da ich mir die Duftwolke dieses wunderbaren Schinkens nicht entgehen lassen will, der deutlich sichtbar auf dem Tisch hinter der Tür liegt. Jetzt verstehe ich. Verstehe, was Wörter wie Wärme, Aroma und Gastfreundschaft eigentlich bedeuten. Aber wenn man diese Wärme und diese Düfte nie erlebt oder nie aus der Nähe genossen hat, wird es schwer, sie in Worte zu fassen oder in einem Buch zu beschreiben. Seit heute Abend weiß ich auch, was »gute Laune« wirklich heißt. Vielleicht wird es mir sogar gelingen, ihr einige andere Begriffe wie Glück und Freude an die Seite zu stellen: das Glück einer unerwarteten Begegnung und das Vergnügen, Freundschaften zu schließen. Diesen Gedanken nachhängend, holt mich die Realität ein, als Anna das Geschirr abräumt und in die Küche bringt und Jutta wie von der Tarantel gestochen aufspringt und ihr hinterhereilt. Ich setze mich wieder zu Claudio, der sich inzwischen ein Glas von einem Schnaps mit dem seltsamen Namen »fil’e ferru« eingegossen hat und fröhlich weiterschwadroniert, als wäre nichts passiert.
Die Nacht
Jutta
Von Schlaf ist in dieser Nacht wenig die Rede, aber wieder viel von Wahrnehmung und Erwartungshaltung. Denn offensichtlich ist Brunos Eindruck von unserem ersten gemeinsamen Abend auf Sardinien ein vollkommen anderer als meiner.
Als ich völlig steif aus irgendeinem idiotischen Traum hochschrecke, liegt neben mir ein Stein. Immens schwer und unverrückbar.
Als Erstes versuche ich, das zentnerschwere Bein, das quer über mir liegt, loszuwerden. Danach muss ich den Stein um hundertachtzig Grad drehen. Warum männliche Betrunkene besonders anhänglich und liebebedürftig sind, habe ich nie verstanden.
Jedes Mal, wenn ich es fast geschafft habe, rollt Bruno mit einem Grunzen in seine vorherige Stellung zurück. Irgendwann gebe ich entnervt auf und krabbele auf allen vieren um ihn herum, um mich auf die andere Seite zu legen. Er jedoch dreht sich in diesem Moment auf den Rücken und breitet seine Arme nach rechts und links aus, so dass nun in diesem stockfinsteren, jämmerlich kalten Stall auf beiden Seiten kein Platz mehr ist. Ich rüttele ihn, fordere ihn auf, mir Platz zu machen, flüstere ihm direkt ins Ohr, schreie dann fast, er solle endlich rutschen! Nichts!
Mir ist übel, wie eine Fata Morgana taucht vor meinen Augen eine riesige Flasche Wasser auf. Ich wünsche mich in mein warmes, weiches, duftendes Bett in München. Gemütlich eingemummelt unter den Daunen, liebe ich es, zu jeder Jahreszeit mit offenem Fenster zu schlafen. Hier habe ich jetzt allerdings die Schnauze voll. Ich ziehe an der Decke, um wenigstens einen Zipfel abzubekommen, und schließlich gelingt es mir unter großen Mühen. Entweder die Ziegendecke oder gar keine, denke ich resigniert.
Jetzt tut mir die Hüfte weh, denn unter mir ist bis auf die dünne Lage Stroh nur der nackte Erdboden. Ich nehme meine Handtasche, schiebe sie unter mich und lege mich vorsichtig darauf.
Etwas darin ist ungemütlich hart, aber Sekunden später hat sich dieses Problem von selbst gelöst: Meine Sonnenbrille, die ich anscheinend nicht in ihr Etui zurückgelegt habe, zerbricht in ich weiß nicht wie viele Teile. Ich könnte auf der Stelle losheulen, meine schöne geliebte Designerbrille, passend zum cremefarbenen Röckchen!
Da ich sowieso nicht schlafen kann, überlege ich, was sonst noch alles in der Tasche ist. Mein Portemonnaie, das Flugticket, mein Hausschlüssel, ja, der ist auch unangenehm zu spüren, ein paar Lippenstifte. Man weiß ja nie, welche Farbe man gerade braucht. Ein Päckchen Papiertaschentücher, die sind weich, gottlob, meine drei Glückssteine, ohne die ich nie verreise, mein funktionsuntüchtiges Handy, Zahnseide! Augenblicklich bin ich hellwach. Wenn ich jetzt die Zahnseide finde, kann ich mir fast die Zähne damit putzen. Zumindest das Gröbste und Ekligste könnte ich aus meinem Mund entfernen und hätte sicher danach einen besseren Geschmack im Mund, weil sie gewachst und mit Menthol ist. Vielleicht hängt ja zwischen meinen Zähnen noch so ein Fischei, ganz zu schweigen von einem der toten Würmer, der sich an mein Zahnfleisch geklammert haben könnte. Nächtliche Geräusche sind furchteinflößend, und in diesem Moment bin ich dankbar, dass Bruno, obwohl nicht einsatzfähig, so doch neben mir liegt.
Bei Tagesanbruch werde ich ihn unsanft wecken und einen gebührenden Zirkus machen, nehme ich mir vor. Er wird Claudio veranlassen, uns zu seinem Bruder oder sonst wohin zu bringen. Ich will hier weder frühstücken noch länger Annas und Claudios Gastfreundschaft genießen. Davon habe ich genug.