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Die Wärme und der Herzschlag eines Menschen, der einem nahe ist, können unendlich wohltun, und so einsam ich mich auch in dieser Situation fühle, lullt mich das rhythmische Tumtum, Tumtum unter seiner Brust ein. Ich lege meine Hand darauf und stelle mir vor, dieses kleine Herz mit meinen Fingern zu umfassen. Ich halte es umschlossen, so ist es sicher, muss sich nie mehr fürchten oder aufgeregt sein. Ich brauche dieses Lebenszeichen wie ein neugeborenes Tier die Mutterwärme. So schlafe ich endlich ein.

Fil’e ferru

Bruno

Claudio und ich bleiben allein. Er hat eine ziemliche Fahne, aber ehrlich gesagt fühle ich mich inzwischen auch schon etwas betrunken. Gerade eben hat mir Claudio ein erstes Gläschen fil’e ferru eingegossen …

»Vor vielen Jahren«, erzählt er, »als jeder Schafstall bereits ein Haus war und jede noch so kleine Ansammlung von Häusern schon ein Dorf, hatten alle eine Küche mit einer Feuerstelle wie dieser hier in der Mitte, um sich daran zu wärmen und zu kochen – damals gab es noch kein ›Barbecue‹ … Abends, wenn es dunkel wurde, nach einem langen Arbeitstag auf den Feldern, setzte sich auch meine Familie um das Feuer, und gleich nach dem Abendessen erzählte mein Vater sogenannte Kamingeschichten, contos de foghile. Papa erzählte uns diese kleinen Geschichten, um mich und meinen Bruder wach zu halten und um uns seine Lebensweisheiten zu vermitteln. Überwiegend handelten die Geschichten von schlauen Kerlen und Dummköpfen, unwichtigen Begebenheiten, seltsamen Ereignissen aus dem Dorf, aber es waren auch Geschichten zum Lachen.«

Ich höre ihm leidenschaftlich gern zu. Claudios Stimme, die selbst in seinem angeschlagenen Zustand eine besondere Stimmung erzeugt, weckt Gefühle in mir. War ich vorhin erschrocken, bin ich jetzt entspannt. Diese Farben, die Nuancen, die Pausen zwischen den einzelnen Worten versetzen mich in einen Zustand ungewöhnlicher Leichtigkeit und wachsender Euphorie.

Das letzte Mal war ich vor ungefähr zweiunddreißig Jahren so richtig betrunken. Das war am Meer, nach dem Abitur, und ich fühlte mich großartig: voller Selbstvertrauen, mutig, stolz, aber nicht müde.

Bekanntermaßen ist Absinth die stärkste Spirituose, die mit einem Alkoholgehalt von bis zu 90 Prozent erhältlich war, gefolgt von Centerbe, dem Kräuterlikör aus den Abruzzen, der es auf 70 Prozent bringt. Doch fil’e ferru ist mit seinen 40 Prozent auch recht stark. Das ist der sardische Grappa par excellence, dessen Name wörtlich übersetzt »Eisendraht« bedeutet. Der Name ist vor einigen Jahrhunderten entstanden und leitet sich von der Methode ab, mit der man während des Krieges die Destillierkolben für illegal gebrannten Schnaps versteckt hat. Die Flaschen wurden vergraben, und damit man später das Versteck wiederfand, steckte man einen Eisendraht in den Boden.

»Wenn du ein echter Hirte bist, musst du dich einmal im Monat besaufen«, sagt Claudio und gießt mir das inzwischen dritte Gläschen ein. Der Abend ist wirklich schön, am Himmel scheint still der fast volle Mond. Noch ist die Lage unter Kontrolle. Claudio steht vom Tisch auf, hält ein Stöckchen in die Glut und zündet damit seine Zigarette an. Einen Augenblick lang kann ich in der Nacht, die nur vom Mondschein und einer schwachen Neonröhre erhellt wird, seinen sympathisch wirkenden symmetrischen Schnurrbart erkennen, die runzelige Stirn und eine kleine Narbe an der Schläfe. Die Grillen zirpen ihre eintönigen Lieder – und wir haben Oktober! Nachtfalter und Mücken kreisen wie trunken um die einzige Lichtquelle hier, während ihre Schatten auf der Mauer sie verfolgen. Auf dem Grill knistert und knackt ein Feuer. Ein Geruch nach Pinienharz umgibt uns: Bevor sie gegangen ist, hat Anna Kartoffelscheiben mit Olivenöl und Oregano auf die Glut gelegt. Was will man mehr? Einige Minuten vergehen. Claudio setzt sich wieder hin, er sieht mir direkt in die Augen. Seine Stimmung wechselt ganz plötzlich: Er sprudelt eine Folge von scheinbar zusammenhanglosen Sätzen hervor, die jedoch einen Sinn ergeben.

»Also, mein Freund, nach Gesturi könnt ihr zu Fuß gehen, dazu braucht man kein Auto. Man muss immer wachsam sein, beobachten, rufen, die Herde weitertreiben, den Hund führen …« Während er so vor sich hin brabbelt, fällt mir auf, dass ich seit mehr als einer Stunde fast immer ein Glas in der Hand halte. Zuerst Mirto, den sardischen Myrtenlikör, dann den Nuraghe und jetzt fil’e ferru, ich schütte in einem fort etwas in mich hinein. Heute Abend könnte ich Bäume umarmen, hätte ich nicht Claudios Worte im Ohr: »Zu Fuß nach Gesturi.« Was soll das heißen? Schließlich hat er doch gesagt, er würde sich das Auto seines Bruders leihen. Er sieht mich nicht mehr an und summt jetzt leise »My way«. Den Song hat er schon auf dem Rückweg vom Flughafen gepfiffen.

Schon steht er wieder auf. Mit der halbleeren Flasche fil’e ferru schwankt er hin und her. Er geht auf die Mauer gegenüber zu und bedeutet mir mitzukommen. »Sing mit, dieses Lied müssen wir der verblassten Wandfarbe widmen, hicks … and mooore, much mooore than thiiis …«

Jetzt singe auch ich den Klassiker von Frank Sinatra, peinlich nur, dass ich alles bis auf den Refrain vergessen habe. Was würde Jutta sagen, wenn sie mich in diesem Augenblick sehen könnte? Die nächsten Teile unserer Unterhaltung singen wir.

»Was meinst du mit zu Fuß, Claudio?«

»Zu Fuß, zu Fuß … dass ich euch zu meinem Bruder bringe, kannst du vergessen … das habe ich … nur so gesaaagt … ich wohoollte nuur … dein Weib beruhigen … la-la-la-la.«

»Aber du hast es mir versprochen!«

»Ich muss morgen mit dem Traktor zum Flughafen zurüüück … Deshalb zu Fuß, zu Fuß, zu Fuuuß … geht ihr nach Geeehee-sturiiiii!«

In einem kurzen Anfall von Nüchternheit frage ich Claudio, warum er es sich anders überlegt hat. Er antwortet mir nicht, sondern beschränkt sich darauf, mir unverständliches Zeug zu erzählen.

»Claudio, du kannst uns morgen nicht zu Fuß losschicken … Du hast versprochen, uns auf dem Traktor zu fahren, und das wirst du auch tun!«

Ganz plötzlich wird auch er in seinem Rausch klarsichtig. Er setzt sich wieder hin und schaut mich treuherzig aus großen Augen an.

»Ihr werdet auf Maultieren zu meinem Bruder kommen, ich leihe euch meine beiden Esel.«

»Waaas???«

»Allerdings nur, wenn mir Jutta einen kleinen Gefallen erweist. Nein, nicht das, was du denkst … Ich will nichts von ihr. Ich habe vorhin im Stall beobachtet, wie die Ziegen deine Frau angehimmelt haben, als sie den Esel gestreichelt hat … Bruno, das war Liebe auf den ersten Blick. Von mir lassen sich die Ziegen nicht mehr anfassen, nicht mal von meiner Annuzza. Aber ich bin sicher, dass sie sich von Jutta alles gefallen lassen.«

»Und du willst, dass ich Jutta überrede …«

»Genau. Ein Liter würde uns schon reichen. Dafür leihe ich euch meine Esel. Mit ihnen kommt ihr nach Ussana, und dort lasst ihr sie bei meinem Bruder … Also? Einverstanden?«

Ich verfluche den Tag, an dem ich ans Telefon gegangen bin! Ich verfluche den Tag, an dem ich versprochen habe, Trauzeuge meines Cousins zu werden! Verflucht sei Claudio! Und zum Teufel mit diesem Donnerstag.

»Wie heißen die Esel?«, seufze ich.

»Fil’e und Ferru, wie der Schnaps. Du wirst sehen, der eine ist so kräftig wie Eisen und der andere dünn wie ein Draht.«

2. Tag – Freitag

Der Morgen

Jutta

Schlagartig erkenne ich dieses Geräusch wieder. Claudio hat seinen Traktor angeworfen.

Ich rappele mich auf und muss meine Knochen erst einmal sortieren. Meine Kleider sind völlig zerknittert, mein Gesicht möchte ich mir lieber nicht vorstellen, von meinem Seelenleben ganz zu schweigen.