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»Bruno, aufstehen, Claudio wartet auf uns.« Es war zu erwarten, dass es nicht leicht sein würde, ihn zu wecken, aber tatsächlich ist es vollkommen unmöglich. Ich greife zu härteren Mitteln und tätschel seine Wange. Schließlich ziehe ich an seinen Beinen, versuche seinen Oberkörper aufzurichten, hebe ein Augenlid, um das Licht eindringen zu lassen. Nichts! Ich habe keine Chance, Bruno schläft, er befindet sich im Koma.

Das Traktorengeräusch wird leiser, und Panik befällt mich. Ich renne nach draußen, Bruno fällt unsanft auf das Strohlager zurück, was ihn jedoch nicht zu stören scheint. Ganz sanft verfärbt sich das nächtliche Schwarz in morgendliches Hellgrau, es muss sehr früh sein, zu dunkel noch, um auf meiner Uhr die Zeit erkennen zu können. Ich blicke in Richtung Geräusch und sehe die Rückscheinwerfer auf dem schmalen Weg. Hoffentlich holt Claudio seinen Bruder.

Im Steinhaufen herrscht rege Emsigkeit, aber irgendwie fehlt mir jegliche Kraft, mich jetzt mit Anna zu unterhalten. Was gäbe ich für einen Kaffee, dann wäre ich ein anderer Mensch. Ich geniere mich jedoch für mein Aussehen. Mit meinen Fingern versuche ich mein wirres Haar zu glätten und entdecke zu meiner Freude einen Brunnen. Das Geräusch der Wasserpumpe lockt Anna aus ihrem Haus.

»Buon giorno, Signora Udda. Haben Sie gut geschlafen? Brauchen Sie etwas?«

Ein wenig erfrischt gehe ich ihr mit freundlichem Lächeln entgegen. Sie reicht mir eine Tasse, gierig trinke ich den starken, ungesüßten, heißen Kaffee.

Dann winkt Anna mir, ich solle ihr folgen. Wir gehen zu den Wildschweinen und Ziegen. Anna öffnet die wackelige Gattertür und wartet, bis ich durchgegangen bin. Dann schließt sie hinter mir die Tür. Ich stehe mit meinen Sandaletten in der Scheiße.

Wie tief, werde ich gleich erfahren. Anna reicht mir einen umgedrehten Blechkübel und bedeutet mir, mich zu setzen. Dann fängt sie in Windeseile eine Ziege, die sich mit allen Kräften wehrt. Dieses zappelnde Tier drückt sie mir zwischen die Schenkel und nimmt meine Hand. Ich soll die Ziege festhalten. Ein kleinerer Blechkübel wird unter sie gestellt, und Anna zeigt mir, wie ich das dicke Euter leeren soll.

»Anna, ich kann das nicht!«, versuche ich sie zu überzeugen, aber das scheint ihr egal zu sein, denn sie schnappt sich bereits die nächste Ziege. Meine kleine Ziege schreit nach Kräften, und ich kann es ihr nicht verdenken. Wieso soll ich eine Ziege melken, wer hat sich denn das einfallen lassen?

Anna ist erbarmungslos und ruft zu mir herüber, ich solle loslegen. Offenbar soll ich die ganze Melkerei übernehmen, sie hätte es mir jetzt gezeigt, und nun schaut sie sich mal an, wie es klappt.

Es geht überhaupt nicht! Die Ziege mag nicht, wie ich an ihrem Euter herumdrücke.

Anna lacht und nimmt meine Finger und streicht mit sanftem Druck von oben nach unten über die Zitze. So lange, bis ein kleiner, aber pfeilgerader Strahl in den Eimer schießt. Nun soll ich es ihr gleichtun. Ich versuche es, aber nichts kommt raus. Wieder nimmt sie meine Hand und führt sie. Milch läuft in den Eimer, ich versuche es alleine, und siehe da, ein bisschen »strahlt« nach unten. Auch Anna strahlt und verlässt mich, um die Wildschweine zu füttern, die mittlerweile laut grunzen. Meine Ziege wird ruhiger, und fast bin ich etwas stolz auf mich, als sie mir plötzlich einen Tritt verpasst und mit einem Bocksprung aus meinen Armen springt und das Weite sucht. Ich rufe Anna, aber die lacht nur. Haha, sehr komisch, also versuche ich das dumme Tier wieder einzufangen, verliere dabei meine Schuhe, was auch schon egal ist. Ich traue mich nicht, nach unten zu sehen, denn das, was ich zwischen meinen Zehen spüre, spricht Bände.

Grotesk, wie ich einer Ziege gleich durch das Gehege hüpfe, um sie einzufangen.

Ich erwische ein Tier und schleppe es unter Geschrei zum Kübel. Als ich jedoch das Euter suche, stellt sich heraus, dass es ein Bock ist! Und der will absolut nicht gemolken werden.

Also veranstalte ich erneut das »Fang die Ziege«-Spiel, um endlich eine zu erwischen, die ich austricksen kann, indem ich mich blitzartig umdrehe, als sie ahnungslos hinter mir steht. Ich umklammere sie fest mit meinen Schenkeln und rede beruhigend auf Bayrisch auf sie ein. »Blödes Muckerl, hoit halt still, i dua doch nix.« Bayrisch scheint sie zu mögen! Also rede ich weiter sanft mit ihr und stimme ein »Hiatamadl, mog i ned, hot koane dicken Wadln ned, i mog a Madl aus da Stod, was dicke Wadln hod« an. Eine bayrische Weise, der normalerweise ein ordentliches Jodeln folgt, was ich sicherheitshalber weglasse.

Ich glaube, die Ziege meint, ich singe etwas auf Sardisch, denn andächtig lässt sie meine Melkversuche über sich ergehen.

Irgendwann mag sie nicht mehr, und ich lasse sie laufen, um mir eine andere zu schnappen.

Anna ist nirgendwo zu sehen! Auch von Bruno keine Spur, geschweige denn eine Reaktion auf den Lärm hier. Wie kann er denn immer noch schlafen? Zu gerne möchte ich jetzt zu ihm gehen und ihn wachrütteln, aber ganz offensichtlich habe ich hier eine Aufgabe. Keiner lässt sich blicken, um mir beizustehen. So bleibt mir nichts anderes übrig, als noch ein bisschen weiterzumelken. Wer weiß, vielleicht muss ich ja mal eine Bäuerin spielen, dann kann ich wenigstens dem Regisseur imponieren?

Ziege fangen, sie festhalten, von ihr gebissen werden, einen Tritt kassieren, Milch in den Eimer strahlen, aufpassen, dass er nicht umkippt, im Matsch ausrutschen, Rock, Mantel und Hände restlos einsauen, das ist die Reihenfolge. Nach einer halben Ewigkeit bin ich fertig. Ich bin stolz, kriege aber gleichzeitig eine gesalzene Wut auf meinen Herzallerliebsten. So, der ist jetzt dran, und der Gestank an mir wird ihn zur Besinnung bringen!

Ich schnappe mir den fast vollen Eimer und gehe zum Haus. Anna ist wer weiß wo, also stelle ich die Milch in ihre Küchenecke.

Dann mache ich mich auf den Weg zu Bruno.

Er befindet sich noch immer im Koma, und langsam mache ich mir Sorgen. Mit den üblichen Tricks bekomme ich ihn nicht wach, also laufe ich in die Küche, um Kaffee zu holen. Anna ist nirgendwo zu sehen, aber auf dem kleinen Tischchen steht eine italienische Caffettiera, eine typische Handkaffeemaschine, die man aufs Feuer stellt. Jetzt brauche ich nur noch einen Espresso, und alles sieht schon besser aus.

Wenn einem Italiener etwas in seinem Leben nicht ausgehen darf, ist es Kaffee. So habe ich gottlob auch hier Glück und finde auf Anhieb eine wunderbare Dose mit dem würzigen Lebenselixier.

Ganz gegen seine Gewohnheit gebe ich zwei Löffel Zucker in das extrastarke Gebräu und renne zurück in unseren Stall.

»Mund auf«, herrsche ich ihn unsanft an, aber er reagiert nicht.

»Bitte, Bruno, mach deinen Mund auf, und trink das.«

Endlich! Also säusele ich weiter, trotz meiner Stinkwut, und kriege ihn tatsächlich dazu, die ganze Tasse auszutrinken. Bevor er sich wieder in seine Embryohaltung zusammenrollt, meine ich ein zartes »Grazie« gehört zu haben, und das war’s dann auch.

Lethargie ertrage ich nicht. Egal, ob ich einen Kater habe oder es mir sonst nicht gutgeht, ich versuche immer, mich aufzurappeln. Wenn ich noch andere Menschen mitziehen muss, lässt mir mein eingebläutes Verantwortungsgefühl eh keine Ruhe, und ich schleppe mich vorwärts. Bei Bruno jedoch scheint in seiner Kindheit vieles anders gelaufen zu sein. Wenn es ihm nicht gutgeht, fühlt er keine Verpflichtung, geschweige denn irgendeinen Drang, aus eigenem Antrieb seine Situation zu verbessern. Bruno erwartet Hilfe von außen. Seit geraumer Zeit von mir, indem ich ihm etwas bringe oder ihn massiere, einen Arzt hole oder ihn auch nur stundenlang streichle, ihn jedenfalls so lange in seiner Befindlichkeit lasse, wie es ihm passt. Erst dann, und das in unendlicher Langsamkeit, wird er ins Leben zurückkehren.

Also bleibt mir nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Mittlerweile erhellt die Sonne mit weichem Licht die mit Tautropfen übersäten Wiesen rings um das bäuerliche Anwesen. Still ist es, bis auf das vereinzelte zarte Bimbim der Glöckchen, die manchen Ziegen um den Hals hängen. Hin und wieder kräht in der Ferne ein Hahn.