In der Küche finde ich ein Stück Fladenbrot und einen in Zeitungspapier eingewickelten Zipfel Salami. Da niemand hier ist, den ich fragen kann, erlaube ich mir, meinen Hunger zu stillen, und schlinge gierig alles hinunter, trinke den Rest Kaffee und mache eine kurze Morgentoilette an der Wasserpumpe. Den Gedanken an eine Dusche und frische Wäsche verdränge ich. Neben dem Brunnen liegt eine Bürste, daneben ein großes Stück Seife. Was auch immer Anna und Claudio damit machen, ich werde jetzt meine Schuhe reinigen und wenigstens meinen Oberkörper waschen. Verstohlen ziehe ich mein blaues T-Shirt aus, das schon bessere Zeiten gesehen hat, und mache Katzenwäsche, dann bürste ich meine verkrusteten Füße, danach meine Sandaletten und trockne mich mit Taschentüchern aus meiner Handtasche ab. Wie wenig man plötzlich zum Glück braucht! Ich verspüre Tatendrang! Ich werde mich nicht weiter untätig dieser Situation überlassen. Ich werde erst Anna und dann eine Lösung finden.
Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Anna aus dem Stall kommt. Sie winkt mir und zieht zwei Esel hinter sich her. Ich laufe ihr entgegen.
Ein Schwall Sardisch überschüttet mich, und ich meine zu verstehen, dass Claudio wieder am Flughafen ist, um weiter zu streiken. Sie deutet unter Grinsen an, dass die beiden Männer gestern Abend ordentlich dem Feuerwasser zugesprochen haben, um dann mit einem »Va beh, uomini«! zu enden. Ich versuche, ihr klarzumachen, dass ich das alles überhaupt nicht komisch finde und dass es Bruno nicht gutgeht und wir dringend endlich auf unsere Hochzeit müssten. Sie nickt und gibt mir zu verstehen, dass ich mir nicht ins Hemd machen soll, sie habe eine Lösung. Ich schaue entgeistert auf die zwei zu klein geratenen und äußerst schmächtigen Esel. Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Noch nie in meinem Leben bin ich auf einem Esel geritten, und auch Bruno hat mir nie von einem Ausritt, weder auf einem Pferd noch auf sonstigem vierbeinigem Getier, erzählt. In seinem Zustand ist dies heute umso weniger möglich.
Ich sage: »No!«
Anna sagt: »Sì!«
Ich sage: »Ma come?«
»Vieni, Signora Udda!« Anna zieht mich mit den Eseln ins Gatter. Aus einem Schuppen holt sie einen nicht sehr vertrauenswürdigen Sattel und legt ihn auf den etwas größeren der beiden Esel. Ein Gurt wird um den Bauch gelegt und mit einer Schnalle festgezurrt. Dem Esel scheint das egal zu sein, denn er hat seinen Kopf tief in einen Eimer gesteckt, in dem sich Fressbares befindet. Anna meint, er wäre ein männlicher Muli und sie würde ihn mir empfehlen, der andere wäre weiblich und ein bisschen zickig. So jedenfalls hab ich es verstanden. Nach dem Kampf mit den Ziegen habe ich keine Kraft mehr, jetzt auch noch gegen Esel zu rebellieren. Ene mene mu, und der Esel, der bist du – in dem Fall ich.
Also gut, wenn das die einzige Möglichkeit ist, von hier wegzukommen, soll sie mir wenigstens sagen, wohin wir reiten müssen.
Ich zeige mit meinen Armen in alle Himmelsrichtungen.
»Wohin, Anna?« Sie deutet auf einen Hügel, beschreibt zwei Wellenbewegungen und eine Rechtskurve mit der Hand und sagt »Fratello di Claudio«.
Aha, wir müssen also da rauf und dann wohl wieder runter, dann noch mal rauf, und oben geht’s wohl dann rechts ins Dorf, wo der Bruder lebt. Na, hoffentlich ist das auch so einfach. Sie faselt, Bruno wüsste alles, es wäre so ausgemacht mit Claudio. Ich kapiere, wir sollen uns endlich vom Acker machen, sie hat wohl anderes zu tun, als uns weiter zu bewirten.
Mit Vergnügen, möchte ich ihr antworten, aber da gibt’s ein kleines Problem. Wie soll ich bitte diesen Mann in seinem Zustand auf einen Esel bekommen, und wie soll der Esel wissen, wo er hinsoll, wenn ihn keiner führt! Herrgott noch mal, ich wohne seit Jahrzehnten in der Stadt und nicht auf einem Bauernhof, ich kann das nicht!
Aber ich reiße mich zusammen und bitte Anna inständig, mir wenigstens zu helfen, Bruno einigermaßen fit zu machen.
Träum ich oder wach ich?
Bruno
Jutta schnarcht laut vor sich hin. Überall riecht es nach Stroh. Hoffentlich wecke ich sie nicht. Wenn ich nur an den ganzen Ärger und die Schwierigkeiten denke … In meinem Kopf dreht sich alles, ich lege mich auf einen Haufen Stroh. Es piekt. Unruhig werfe ich mich von einer Seite auf die andere, aber ich kann nicht einschlafen. Draußen knabbert eine Ziege an etwas herum, und ständig bimmelt ihr Glöckchen. Etwas kitzelt mich an der Stirn, vielleicht eine Spinne, die von ihrem Netz herunterbaumelt, oder doch eine Stechmücke? Mit der Hand ertaste ich ein Strohbündel. Ich schiebe es mir unter den Kopf, als eine Art Kissenersatz. Aber was ist das? Es zerbröselt und löst sich in seine Bestandteile auf … Verdammt, das ist ja Ziegenscheiße!
Davon wird wohl noch mehr herumliegen. Ich bewege mich daher sehr vorsichtig. Vielleicht habe ich jetzt endlich die richtige Position gefunden. Während ich es mir bequem machen will, stoße ich mit den Knien an eine dieser Schubkarren, die wahrscheinlich zum Stallausmisten benutzt werden. Sie scheint leer und vor allem sauber zu sein. Langsam krieche ich vorwärts, dann klettere ich hinein. Jutta schnarcht weiter vor sich hin. Gelenkig wie ein Schlangenmensch schlüpfe ich aus meiner Jacke und decke mich damit zu. Ich versuche zu schlafen, aber die Nachwehen meines Rausches machen mir zu schaffen. Mir ist übel, alles dreht sich, ich habe einen so verfluchten Durst, dass ich auf einen Rutsch zehn Schweppes hinunterkippen könnte. Inzwischen hat sich zu den kribbelnden Ameisen in meinem Bauch eine Schar Zwerge gesellt, die auf meine Schläfen einhämmern. Jetzt würde ich Jutta nicht für Milch und Esel eintauschen, sondern für die Erfüllung mindestens eines der folgenden Wünsche: a) in fünf Minuten ist es acht Uhr morgens, b) ein Aspirin oder c) eine Zeitmaschine, die mich zurück nach Rom beamt.
Anders als bei früheren Besäufnissen kann ich mich diesmal an alles erinnern: mit wem ich getrunken habe, was ich getrunken habe und … o Gott, wie tief bin ich gesunken! Das darf doch nicht wahr sein. Auf Eseln nach Gesturi, das kann nur ein Traum sein!
Wie oft schon bin ich mit klopfendem Herzen aufgewacht, und es hat ein wenig gedauert, bis ich begriffen habe, dass alles nur ein Traum war! Die eigene Frau eine Ziege melken zu lassen, das ist so absurd, dass … Ich schließe die Augen und drehe mich auf die andere Seite, wobei ich hoffe, dass ich nicht mitsamt der Schubkarre umkippe. Ich muss unbedingt noch einmal in meinen Traum einsteigen, um zu sehen, wie er wohl ausgeht. Normalerweise klappt das … Verkaufen! Ja, genau, das habe ich getan: Ich habe Jutta für zwei Maultiere »verkauft«! Es wäre höchst interessant, diesen Traum zu deuten! Die eigene bessere Hälfte an einen ungehobelten, dickköpfigen sardischen Hirten mit großen, rauen und schwielenbedeckten Händen zu verkaufen!?
Jemand hat mal gesagt: »Gebt mir einen Traum, in dem ich leben kann, denn die Wirklichkeit bringt mich um.« Na ja, das kann ich im Moment nicht, aber wie gern hätte ich das geträumt! Doch keine Chance! Es ist also tatsächlich passiert. Ich sehe den nächsten Morgen vor mir: Jutta mit dem Eimer zwischen den Beinen, die eine Hand drückt das Euter und die andere zaghaft die Zitzen der Ziege. Verdammt, was habe ich da bloß angestellt! Sobald ich wieder in Rom bin, muss ich darüber mit einem meiner Freunde – einem Psychiater! – sprechen.
Dann schlafe ich ein.
Um mich herum springen lauter rosafarbene Schafe durch den Stall. Neben »meiner« Schubkarre steht eine zweite, in der Vladimir Putin mit drei jungen Steppenwölfen Karten spielt. Und statt Jutta liegt Jessica Rabbit, die Frau von Roger Rabbit, in einem verführerischen roten Kleid im Stroh, singt »My Way« und streichelt mein Knie. Hinter dem Melkstand schaut Freuds bebrillter Kopf hervor und schreit wie besessen: »Du bist einer meiner Fälle! Du bist einer meiner Fälle!« Außerdem sehe ich die Comic-Maus aus dieser italienischen Werbung für Parmesankäse, die mir erklärt, dass sie in Wirklichkeit gar nicht aus der Emilia stammt, sondern aus Sardinien und es hasst, im Fernsehen mit diesem dämlichen Akzent aufzutreten, aber leider brauche sie das Geld. Eine Fledermaus fliegt vor mir vorbei und sagt: »Du träumst, Bruno …«, dann verzieht sie sich wieder. Ich lasse mich überzeugen und versuche, mich zu kneifen, damit ich endlich aufwache. Keine Chance, alles wie gehabt. Zweimal kneifen. Nichts. Ich entreiße Jessica Rabbit das Mikrophon und schlage es mir auf den Kopf. Wieder nichts. Ich packe einen von Putins Wölfen und zwinge ihn, mich in den Arm zu beißen. Immer noch nichts. Da haben wir es: Ich versuche, mich mit der Schubkarre umzudrehen und … BUMMM! … Hurra, ich bin wach! Was für ein Traum!