Hier ist es immer noch stockdunkel, und ich komme mir vor, als wäre ich gerade einem Fantasyfilm entsprungen. Jutta schnarcht immer noch wie vorher. Nun weiß ich, wo sie ist. Ich gehe zu ihr, lege mich neben sie und nehme sie in den Arm. Ich will nicht an morgen denken. Ich muss weiterträumen. Ich zähle die Schafe im Flughafen: eins, zwei, drei, vier … Ich muss weiterschlafen, schlafen, weiterträumen …
Ein sonniger, aber nicht zu heißer Nachmittag in München; ich fahre auf meinem Rennrad die lange, romantische Nymphenburger Straße entlang, die vom Schloss zur Stadtmitte führt. Ich radele langsam und in Gedanken versunken vor mich hin (ich bin schließlich der Typ, der gar keine Auto hat!), und als ich vom Lenker hochschaue, sehe ich eine Frau vor mir. Was heißt hier Frau, die ist echt der Hammer! Sie erscheint mir wie eine Fata Morgana: Goldblonde lange Haare, ein helles körperbetontes T-Shirt, endlose Beine, die sich in wunderschönen Schuhen mit schwindelerregenden High Heels verjüngen (da können Juttas Sandaletten einfach nicht mithalten!). Die Erscheinung schaut weder nach rechts noch nach links, sie bewegt sich, nein, sie schreitet majestätisch vorwärts. Wirklich ein Superweib! Ich überhole sie und versuche zumindest das Profil dieser geheimnisvollen Signora im Gedächtnis abzuspeichern. Die Straße macht eine leichte Kurve, das reicht, um aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Urplötzlich überkommt mich brennender Durst. Ich nehme den Helm ab und setze mich auf ein Mäuerchen, wo ich ein wenig ängstlich warte. Sie wird doch wohl nicht – nein, das wäre zu grausam – umgekehrt sein? Nein, da ist sie ja, und sie kommt auf mich zu. Ich wage noch nicht aufzublicken. Mit gespielter Lässigkeit mache ich mich an meinem Handy zu schaffen und …
»Liebling, wo bist du?«
Jutta!
Auf den Esel gekommen
Jutta
An beiden Armen zerren wir Bruno hinaus ins Freie. So betrunken scheint er nicht mehr zu sein, als dass er nicht mitbekommt, was wir mit ihm anstellen. Immerhin ein Fortschritt! Wir setzen ihn auf einen abgesägten Baumstumpf, und Anna zieht ihm Jackett und Hemd aus. Der Arme, der friert doch, denke ich mir noch, bevor Anna in der nächsten Sekunde einen Eimer Brunnenwasser über Bruno schüttet. Wie ein Pfeil schießt er hoch und schreit, was das Zeug hält, ich befürchte, er kollabiert jede Sekunde.
»Tu sei matto«, schreit er Anna an, und ich bin nur froh, dass nicht ich auf diese Idee gekommen bin. Ich glaube, mich hätte er umgebracht, bei Anna jedoch hat er Skrupel. Aber wach ist er.
»Va bene!« Sauer ist er auch, aber was hilft’s? Ich renne los, um irgendetwas zu finden, womit er sich abtrocknen kann. Die Hose scheint auch ein bisschen nass zu sein. Na, das wird lustig auf dem Esel! Ich überlege mir krampfhaft, wie ich ihm beibringen soll, dass wir leider nicht mit Claudio, sondern auf zwei Eseln zu diesem Bruder kommen müssen. Wenn Bruno wütend ist, ist er sehr wütend, und das fürchte ich in diesem Moment. Für einen handfesten Krach bin ich zu angeschlagen. Mit einem einigermaßen sauberen Lappen kehre ich zu den beiden zurück und tupfe vorsichtig die nassen Schultern meines Liebsten ab.
»Bruno, hör zu, wir haben ein kleines Problem!«, versuche ich mit sanfter Stimme seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
»Claudio ist schon weggefahren, zurück zum Flughafen, du warst ja nicht in der Lage aufzuwachen, und so müssen wir nun leider mit zwei Eseln weiterkommen. Ich hoffe, du weißt, wie das geht, denn ich kann nicht reiten, du musst meinen Esel mitziehen, verstehst du?«
Er schaut mich erstaunt an.
»Ja, ja, nun guck nicht so, ich hab dir das nicht eingebrockt«, maule ich ihn an. Er jedoch beginnt eine Tirade, die mehrere Minuten dauert und mich sprachlos macht: Ich solle ihm dankbar sein, denn wenn er nicht gestern Abend mit Claudio noch einen ordentlichen Deal gemacht hätte, könnte ich heute zu Fuß gehen. Nur durch sein Zureden habe er Claudio davon überzeugen können, uns seine beiden wertvollen Esel zu leihen, mit denen wir heute zu Claudios Bruder, der schon auf uns warten würde, reiten könnten. Im Gegenzug solle ich Anna etwas unter die Arme greifen. Ob ich schon die Ziegen gemolken hätte?
Wenn ich jetzt alleine mit ihm wäre, würde ich ihm an die Gurgel springen. So jedoch sage ich nur: »Verstehe ich das jetzt richtig, du hast es so arrangiert, dass ich hier die Drecksarbeit mache, während du genüsslich deinen Rausch ausschläfst? Und damit wir an zwei dämliche Esel kommen, lässt du mich Ziegen melken?? Ich komme jetzt, auf welchem Weg auch immer, mit zu diesem blöden Bruder, und dann mach ich mich auf den Weg zum Flughafen. In München rufe ich als Erstes eine Spedition an und organisiere den Transport meiner Habseligkeiten von Rom nach München. Das, mein Lieber, ist definitiv das Ende unserer Beziehung. Wir sind hier nicht im Orient, sondern lediglich auf einer beschissenen italienischen Insel, und so was hat noch nie ein Mann mit mir gemacht, und – darauf kannst du wetten – das wird auch nie wieder einer mit mir machen!!!!!!!!!!«
Anna, des »Dinglischen«, jenes merkwürdigen deutsch-italienisch-englischen Sprachgemischs, in dem wir uns normalerweise unterhalten, eindeutig nicht mächtig, schaut verwirrt von einem zum anderen. Aus der Küche holt sie eine Tüte und steckt sie in die Satteltasche, während ich versuche, meinen Esel auf den Weg zu ziehen. Bruno zieht Hemd und Jacke an. Anna reicht ihm den Strick, der um den Hals seines Esels hängt. Ich drehe mich nicht um, denn ich habe keine Lust, zu sehen, wie er mal wieder seine Siebensachen sucht. Er vergisst grundsätzlich immer irgendetwas. Insgeheim hoffe ich, dass es ihn ordentlich von seinem Muli runterhaut und er auf seinen Allerwertesten fällt. Ich selbst ziehe meinen freundlich trabenden Vierbeiner hinter mir her. Sobald er stehen bleibt, werde ich wieder bayrisch singen, denn das scheint der sardischen Sprache in Tierohren am nächsten zu kommen.
Minuten später rufe ich über die Schulter zurück: »Grazie, ciao Anna«, und locke mein Tierchen langsam bergaufwärts.
Plötzlich wird es richtig laut hinter mir, und das »Aaaaaaaaaoooooooooh … Stooooopp« von Bruno kommt näher und näher. Ich gehe stoisch weiter, als der Esel mit dem unsicher auf seinem Rücken auf und ab hopsenden Bruno an mir vorbeizieht. Mein Tier, wohl vom Tempo seiner Partnerin angefeuert, macht mit einem Mal einen Satz, reißt sich los und galoppiert mit wehenden Steigbügeln hinterher. Pfeilschnell rasen die beiden hügelaufwärts, und bevor sie die Kuppe erreicht haben, sehe ich noch, wie Bruno in hohem Bogen abgeworfen wird. Weg sind sie. Glucke, die ich nun mal bin, wenngleich auch eine zutiefst beleidigte, laufe ich zu Bruno und helfe ihm auf.
Offensichtlich hat er sich weh getan, und ich hoffe, es wird ihn noch lange schmerzen. Jedoch werde ich mich auf keine Mitleidsbezeugung einlassen, soll er doch sehen, wie er weiterkommt. Jetzt müssen wir die beiden Viecher finden, sonst kriegen wir da auch noch Ärger. Das Tal, das sich hinter der Kuppe vor uns ausbreitet, ist größer, als ich vermutet habe. Wohin sind die beiden wohl verschwunden?