Anna hat uns ihre Namen nicht verraten, so kann man sie auch nicht rufen. Worauf hört ein Esel eigentlich? Ich hab mal gesehen, wie ein Bauer mit der Zunge geschnalzt hat, ich versuche es, aber es ist viel zu leise. Reichlich verzweifelt ziehe ich meine Schuhe aus und stecke sie endgültig in meine Tasche. Es erscheint mir sinnvoller, barfuß über die Steine zu gehen, als mir den Knöchel zu verstauchen.
Schon als kleines Mädchen bin ich im Sommer lieber barfuß gelaufen, als mich in irgendwelche Schuhe zu quälen. In den siebziger Jahren war es außerdem höchst schick, sogar in der Stadt in Hippie-Kleidern barfuß zu gehen. Um meine Fußgelenke baumelten silberne Kettchen mit kleinen Glöckchen, und die beiden zweiten Zehen trugen einen Ring. Ich bevorzugte zwei alte geerbte goldene Ringe, die mir am Finger zu klein geworden waren und die sich über alle Maßen sexy an meinen, wie ich fand, sehr hübschen Füßen ausnahmen. Bruno, der grundsätzlich immer, selbst bei vierzig Grad im Schatten, Halbschuhe, und meist auch noch mit Socken, trägt, lacht sich bestimmt ins Fäustchen! Aber ich werde ihm nicht den Gefallen tun, zu jammern. Ich werde jetzt hocherhobenen Hauptes und strammen Schrittes meinen verdammten Esel einfangen und mich dann auf denselben setzen, auch wenn es das erste Mal ist. Und ich werde mich in seine Mähne krallen und meine Schenkel fest um seinen Bauch klemmen, und dann werden wir ja sehen, wer hier lacht.
So laufe ich, so schnell es eben möglich ist, auf dem Weg ins Tal. Habe ich heute Nacht mit der Kälte gekämpft, so wünsche ich mir jetzt ein wenig davon. Sei es wegen der Konzentration auf den Weg oder der immer kräftiger werdenden Sonne – mir läuft der Schweiß nur so runter. Da ich mich völlig darauf konzentriere, wo ich hintrete, habe ich nicht mitbekommen, dass Bruno nicht mehr hinter mir ist. Irgendwo muss er abgebogen sein. Wieso sagt er nichts? Wenn er unsere Esel schon irgendwo entdeckt hat, kann er mir das doch wenigstens sagen? Ich werde schon wieder wütend. Rufen werde ich ihn nicht, das kommt nicht in Frage. Wie heißt denn bloß mein Tier?
»Iiiiiiiaaaaaah, iiiiiiiiaaaah, Eselchen, kommt her«, rufe ich ins Gelände. Gott, ist das albern. Okay, also lasse ich mich halt doch herab und rufe Bruno. Nachdem ich in alle Himmelsrichtungen gebrüllt habe, wird ja wohl ein Lebenszeichen kommen, denke ich mir.
Aber weit gefehlt, nichts passiert. Panik überfällt mich, ich laufe ein Stück den Feldweg zurück und entdecke eine Abzweigung. Da ich jedoch unten im Tal bin, kann ich nicht erkennen, wo sie hinführt. Also laufe ich weiter den alten Weg zurück. Vielleicht sind die Esel und auch Bruno ja weit abseits und können mich gar nicht hören. Ich laufe immer schneller bergan und spüre weder Steine noch Disteln. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander.
Was, wenn die beiden immer weitergerannt sind und Bruno hinterher und sie alle drei jetzt in einem ganz anderen Tal sind?
Noch ein Stück höher, dann muss ich etwas sehen, atemlos versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Als mich die Erschöpfung zum Anhalten zwingt, drehe ich mich um. Ich kann zwar kein Buch mehr ohne Brille lesen, aber in die Ferne sehe ich scharf wie ein Adler. Ich suche mit meinen Augen die Wege ab, sehe große Bäume, schärfe meinen Blick und entdecke plötzlich Bruno.
»Bruno, Bruno, bleib stehen, bitte, ich komme gleich«, schreie ich aus vollem Halse und renne los.
Immer wieder irritieren mich kleine Pfade, die sich zwischen all den Olivenbäumen und Mandelbäumen hindurchschlängeln. Von oben waren sie nicht sichtbar, der Weg sah eindeutig aus, und jetzt ist es wie in einem Labyrinth.
Ich erkenne Traktorspuren, alles sieht nach baldiger Ernte aus, denn die Olivenbäume strotzen in ihrer vollen Pracht. Die Richtung, in der sich Bruno und hoffentlich auch die beiden Ausreißer befinden, habe ich mir eingeprägt, aber jetzt sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Wie ein Hase laufe ich im Zickzack in seine vermeintliche Richtung.
Endlich antwortet Bruno auf meine Rufe, und aus einiger Entfernung meine ich auch ein »Iiiiaaaaaaah« zu hören. Ich muss weiter rechts hinauf, hier bin ich falsch.
»Antworte noch einmal, bitte«, rufe ich ihm entgegen. Mit arrogantem, vorwurfsvollem Blick ob meiner Verspätung steht er da. Mit seinem Esel am Strick sieht er aus, als sei er im falschen Film gelandet. Ich frage mich, wer hier wen hält? Seine Augen blicken trüb drein, fast tut er mir schon leid.
Ob er wisse, wo mein Tier sei, frage ich ihn, und er deutet nur nach links. Friedlich grasend steht mein Langohr unter einem ausladenden Baum. So geschützt vor der Sonne, lässt es sich gut schmausen. Wenn hier noch eine Quelle wäre, würde ich glatt mit ihm tauschen. Plötzlich verspüre ich brennenden Durst. Was, wenn wir hier nie mehr rausfinden und man uns nach Tagen verdurstet und verhungert auffindet?
»Geht dein Handy hier endlich? Warum rufst du nicht um Hilfe?« Verzweifelt blicke ich zu meinem Freund. Genau das habe er die ganze Zeit versucht, aber nun sei auch noch sein Akku leer, und Empfang habe er nur einmal kurz unten im Tal gehabt, als er unter anderem versucht habe, sich auf dem blöden Esel zu halten. Gerade als er dabei war, die Nummer von Maurizio zu wählen, habe Anna dem Tier eins hinten draufgegeben, und es sei wie angestochen losgeprescht. Wie also sollte er da noch telefonieren können, wo er doch seine ganze Kraft aufwenden musste, um nicht herunterzufallen, was, wie ich ja vielleicht bemerkt hätte, dann ja doch geschehen sei.
»Und was nun?«, antworte ich. »Wir können ja nicht hier auf bessere Zeiten warten. Lass uns den Hauptpfad suchen, oder wir gehen ganz zurück zu Anna!«
Entschlossen mache ich mich zu meinem Esel auf, der, kaum dass er mich sieht, Reißaus nimmt. Brunos Esel verfällt augenblicklich in einen Galopp und schleift den überraschten Reiter am Strick hinter sich her. Ich folge dem Gespann unter schrecklichen bayrischen Schimpfworten, die ich an dieser Stelle nicht wiedergeben möchte. Jeden Außenstehenden, der die Chance hat, uns zu beobachten, müsste unsere Situation vor Lachen in die Knie zwingen. Ich selbst könnte heulen.
Irgendwie gelingt es Bruno, meinen Vierbeiner zu stoppen. Da stehen die drei nun. Bruno halb um einen Olivenbaum gewickelt, aber an jeder Hand einen Esel.
»Komm, hilf mir, Jutta«, brüllt er. Ja klar, was soll ich denn sonst tun, verkneife ich mir zu antworten und stürze mich auf mein störrisches Muli. Ich packe es an seinen langen Ohren und zausele es erst mal. Das scheint es wenig zu beeindrucken, denn es frisst schon wieder, diesmal Blätter. Eine gute Gelegenheit für einen neuen Aufstiegsversuch. Mein Muli grunzt und macht einen Schritt zur Seite. Fast hätte ich das Gleichgewicht verloren, doch mein Tier trabt in Ruhe los.
Während ich krampfhaft meine Handtasche und den Mantel in der Hand halte, verliere ich meinen schönen neuen Strohhut. Ich schreie kurz auf, aber da ich nicht herunterplumpsen möchte, muss ich mich auf den Esel konzentrieren. Ich drücke meine Schenkel fest an sein rundes Bäuchlein, was ihm offenbar gut gefällt, denn er fällt in einen gleichmäßigen Schritt, während es mich auf seinem Rücken hin und her beutelt. Hoffentlich weiß das Tier, wohin wir wollen! Zu gerne würde ich mich nach Bruno umdrehen. Ich muss ihn rufen, bevor es zu spät ist. Hoffentlich erschrickt das dumme Vieh dann nicht und wirft mich ab. So mache ich, ganz Eselflüsterin, leise »brrrrrrr, caro, brrrrrrr«, und siehe da, nachdem ich auch ein bisschen an den Zügeln gezogen habe, bleibt es stehen! Wow, das hätte ich nicht erwartet!
Vorsichtig sehe ich mich um. Noch immer hege ich einen gebührenden Zorn gegen meinen Herzallerliebsten, aber angesichts unseres gemeinsamen Schicksals flaut er ein wenig ab. Noch schlimmer wäre es, jetzt ganz alleine zu sein. Sobald wir wieder in der Zivilisation angekommen sind, kann ich mir ja immer noch überlegen, wem ich alles einen Tritt in den Hintern verpassen will.