»Jetzt hast du deine Lektion gelernt, komm wieder runter, geh zu deinem Ferru und streichle ihn. Es gibt nichts Bockigeres als ein Maultier, das nicht begreifen will.«
Wieder zurück, empfängt mich Anna und redet hektisch auf mich ein: »Also, Bruno, immer geradeaus … Nach einhundert Metern nehmt ihr einen Pfad, der nach links abbiegt, und reitet bis zu den Weiden von Zio Gavino, dann wendet ihr euch nach rechts und geht weitere einhundert Meter nach oben bis zu einem größeren Hügel. Dort findet ihr ein kaputtes Gatter auf dem Boden, da reitet ihr drüber, das ist der Zugang zu dem alten Saumpfad. Nach etwa zwei Kilometern erreicht ihr den Agriturismo Cumpari Santinu, dort müsst ihr aufpassen, dass ihr nicht die neu asphaltierte Straße nach links nehmt, denn die führt nach Monastir. Ihr bleibt einfach auf dem Saumpfad und folgt dem Wegweiser nach Ussana. Ein alter Pfad, ihr könnt ihn nicht verfehlen.«
»Warte mal, Anna. Könntest du mir das auch aufschreiben?«
»Ach was, aufschreiben! Der Weg findet sich von allein.«
Dann steckt mir Anna noch einen zusammengefalteten Zettel zu, von Claudio, flüstert sie, und ich stecke ihn hastig in meine Tasche. Wir danken unserer Freundin für alles und machen uns frohgemut auf den Weg.
Auf ins Abenteuer!
Jutta
Als wir beide stumm und reichlich desolat auf unseren Maultieren dahintraben, sehe ich die berühmte Zeichnung Goyas von Don Quijote und seinem Diener Sancho Pansa vor mir, und ich muss unwillkürlich lachen. Wer von uns welcher ist, vermag ich nicht zu sagen, und auch unser Ziel ist ungewiss, aber mein Herz ist auf einmal leicht. Wird mir doch bewusst, dass es schon andere gab, die sich so auf den Weg gemacht haben. Stets ist alles geplant in unserer Zivilisation, hektisch rennen wir von einer Verabredung zur andern, wissen meistens, mit wem und wie wir den Abend verbringen, leben mit dem Terminkalender unter dem Arm und versuchen unsere Stunden sinnvoll und gewinnbringend zu füllen. Jetzt sitze ich einfach still auf einem Muli, das, wenn es ihm einfällt, stehen bleibt, weil ihm ein besonders schmackhaftes Kräutlein ins Auge fällt. Die Welt scheint uns zu entschleunigen, als wäre sie auf die Bremse getreten. »Öffnet mal eure Augen und Sinne und erkennt, wie schön alles sein kann«, scheint sie uns sagen zu wollen.
Heiterkeit breitet sich in mir aus, die die Verpflichtung, unsere Verabredung in Gesturi einzuhalten, verdrängt. Mein Bedürfnis nach einem gewohnten Tagesablauf verschwindet, und ich bin bereit für das Abenteuer. Ich drehe mich leicht zur Seite, um in der Satteltasche nachzuschauen, was uns Anna in letzter Sekunde zugesteckt hat, wer weiß, was da drin ist? Vier saftig-ölige Focaccias, hmm, ein großes Stück Salami und ein Stück Pecorino, zwei Tomaten und zwei gekochte Eier. Welch unverhoffter Genuss! Gerührt möchte ich ihr augenblicklich um den Hals fallen.
Sobald wir an ein schönes Plätzchen kommen, werde ich Bruno von unserem Reichtum berichten. Vielleicht gibt es ja eine Quelle oder wenigstens ein sauberes Rinnsal, dann wäre unser Mittagessen perfekt. Wie unklug von mir, kein Wasser mitzunehmen. So wie ich jedoch Anna und auch Bruno verstanden habe, sind es bis zu Claudios Bruder gerade mal ein paar Kilometer.
Felder und riesige Olivenhaine, so weit das Auge reicht, breiten sich vor uns aus, ziehen sanft bergauf, um dann hinter den Kuppen wieder abzufallen. Vor uns gabelt sich der Weg. Wir wissen nicht, wo wir weitergehen sollen. Wir bleiben stehen, ich steige vorsichtshalber ab, um nicht wieder der Willkür meines Maultiers ausgesetzt zu sein.
Auch ohne Wasser ist es doch ein guter Platz, um zu Kräften zu kommen, und vielleicht zeigt sich ja dann der Weg von selbst. Man muss nur abwarten und spüren, wo es einen hinzieht, dann wird es auch richtig sein, philosophiere ich still vor mich hin.
Ich frage Bruno, ob er Hunger hat, und wedele verlockend mit Annas Tüte aus der Satteltasche. Augenblicklich erhellen sich seine Züge, Essen ist doch ein Allheilmittel gegen schlechte Laune und sonstige Gebrechen. Ganz nach dem Motto »Füttere die Bestie« führe ich meinen Esel zu einem Baum, um ihn festzubinden. Dann breite ich meinen Mantel auf der sattbraunen Erde aus und lege die Köstlichkeiten darauf. Bruno entfährt ein erstauntes »No«, bevor auch er seinen Esel versorgt und sich niederlässt.
Früher hatte ich stets ein Schweizer Taschenmesser dabei, so war ich allzeit bereit, zu schnippeln, Flaschen zu entkorken oder meine Nägel zu feilen. Mit der kleinen scharfen Schere konnte man sogar Seile durchschneiden, aber dank der vor Jahren eingeführten Flugsicherheitsbestimmungen sind unzählige meiner kostbaren Messer unter den gnadenlosen Augen der Beamten an Flughäfen in Mülleimer gewandert. So haben wir leider heute kein Messer und müssen wie Raubtiere unsere Zähne in die Beute schlagen. Wer schneller kaut, kriegt mehr ab. Wer hat den größeren Mund, um sich das größere Stück abzubeißen? Aber wir teilen alles gerecht.
Es ist schon bemerkenswert, wie sich eine solche Ausnahmesituation auf das Verhalten auswirkt. Normalerweise bin ich es als Mutter gewöhnt, mich beim Essen hinten anzustellen. Da ich jedoch noch wütend auf Bruno bin, auch weil er sich wie so oft kaum um etwas gekümmert hat, sondern es anderen überlässt, hab ich heute keine Lust dazu. So hat er es auch diesmal mir beziehungsweise Anna zu verdanken, dass er nicht verhungert. Und als ich jetzt in seine glücklichen Augen sehe, während er genüsslich ein großes Stück Brot mit Salami und Käse in den Mund schiebt, erkenne ich Dankbarkeit und fühle mich in meiner blöden Erwartungshaltung bestätigt. Sofort ärgere ich mich über mich. Wie viel schöner ist doch jeder Moment, wenn man ihn einfach so nehmen kann, wie er ist.
Die saftigen Tomaten löschen unseren Durst, und irgendwo finden wir sicher demnächst Wasser. Nachdem wir unsere Esel von den Bäumen losgebunden haben, stellen wir uns orakelnd an die Weggabelung. Ich schließe meine Augen, nachdem ich intensiv beide Möglichkeiten betrachtet habe. Bis zum Horizont bin ich im Geiste gelaufen, um die richtige Richtung zu erspüren.
Soll es nach rechts gehen oder nach links? Etwas zieht mich tatsächlich, aber am Handgelenk, und es ist keine fremde Macht, sondern der Esel.
»Na, hoffentlich hat der Blödmann recht«, schreie ich gerade noch Bruno zu, bevor ich weitergezogen werde. Wir ergeben uns und laufen mit unseren Maultieren mit, an Aufsteigen ist gar nicht zu denken.
»Bist du sicher, dass die Esel den Weg kennen?«, frage ich Bruno. Aber das ist natürlich die dümmste Frage, die ich stellen konnte! Wie kann ich nur sein Urteilsvermögen in Frage stellen? Er wisse schon, was er zu tun habe, und ich solle ihm vertrauen. Es müsse nach links gehen, die Esel hätten schon recht, und es sei letztendlich auch genau die Richtung, die ihm Claudio gestern Abend beschrieben habe.
»Ach, und daran willst du dich nach der Nacht noch genau erinnern, zumal es stockfinster war und du wohl kaum auch nur irgendeine Richtung erkennen konntest«, blaffe ich zurück.