Das leuchtet mir ein, zumindest ein wenig, und so halten wir beide Ausschau nach einer geeigneten Übernachtungsmöglichkeit.
Über Stock und Stein
Bruno
Es geht weiter. Der Weg schlängelt sich an dem Saumpfad entlang, er ist in einem erschreckend schlechten Zustand, aber das ist nicht schlimm, wenigstens kommen wir voran. Wir begegnen ein paar Leuten, aber sosehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht verstehen, wie man an einem so einsamen Ort leben kann. Sie lächeln uns an und sind sehr freundlich.
Wir reiten jetzt auf einer wunderschönen Felsenkette, es geht bergauf und bergab über grüne Wiesen und zwischen weißen Felsen hindurch, stoßen sogar auf eine Gruppe von grasenden Pferden. Ein Schimmel steht etwas abseits, und durch eine prächtige dicke Wolke über seinem Rücken haben wir den Eindruck, als hätten wir eines von diesen sagenhaften geflügelten Pferden entdeckt, eine Art Pegasus, der sich gleich in den türkisfarbenen Himmel über uns aufschwingen wird! Was für ein Bild! Jutta und ich küssen uns. Es ist unser erster Kuss auf Sardinien!
Nach einer Weile erreichen wir einen kleinen Berg und landen endlich vor dem von Anna erwähnten Gatter, das kaputt auf dem Boden liegt. Die Esel steigen darüber. Jetzt geht es noch ein paar enge Kurven nach oben, und als wir ein leicht rostiges Schild mit der Aufschrift Cumpari Santinu sehen, wissen wir nicht mehr weiter. Anna hat uns gesagt, dass wir auf dem alten unbefestigten Weg bleiben sollen, aber die Straßen vor uns sind beide asphaltiert. Wie kann das sein? Weder ich noch Jutta erinnern uns genau daran, ob die alte Straße die rechte oder die linke war.
Instinktiv meint Jutta, wir sollten uns erst mal weiter rechts halten, aber mir kommt der Asphalt dort neuer vor, daher plädiere ich dafür, dass wir uns nach links wenden. Wenn es danach ginge – so sie darauf –, glänze die Leitplanke links aber deutlich mehr. Mist! Ich blicke mich noch einmal sorgfältig um, aber von einer alten unbefestigten Straße ist wirklich nichts zu sehen. Umkehren kommt nicht in Frage. Claudios Bruder erwartet uns gegen Nachmittag. Ich dränge darauf, dass wir die Straße in linker Richtung nehmen, die uns zu einem Fluss führt, den wir in einigen Hundert Metern Entfernung erblicken. Jutta lässt sich überzeugen.
Unsere beiden Esel trotten wacker vor sich hin, dass es eine wahre Pracht ist, selbst die kleine Fil’e muckt nicht auf.
Eine Weile später entdecken wir am Fluss eine Gruppe von Frauen, die ihre Wäsche schrubben. Sie beobachten uns amüsiert von ihrer Waschstelle aus und tauschen belustigte Kommentare. Wasserspritzer, Gelächter, Späße: Sie erinnern mich an meine Großmutter, wenn sie ihren Waschtag hatte. Wie aufregend ich es fand, die Hände und die Wäsche in das klare, eiskalte Wasser zu tauchen, sie einzuseifen, zu scheuern und auszuspülen. Obwohl das so lange her ist, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.
»Entschuldigung, Signorina, können Sie mir sagen, ob es hier einen Ort in der Nähe gibt? Ich glaube, er beginnt mit U?«
»Mit U?«, sagt eine der Wäscherinnen bass erstaunt. Sie scheinen sich ebenso wenig auszukennen wie ich. »Wenn Sie umkehren, gibt es einen Agriturismo, von dem aus ein Weg nach Monastir führt. Meinen Sie vielleicht diesen Ort? Monastir?«
Ich schüttele unsicher den Kopf. Nein, Monastir war es nicht … Unsere Wäscherinnen knien nun alle und beugen sich über die Wasseroberfläche, auf der sich das Sonnenlicht spiegelt. Tatsächlich ist mein Esel noch ziemlich durstig und braucht jetzt noch mal ordentlich Wasser. Auf einer Dornenhecke hängen gewaschene Bettlaken zum Trocknen, davor steht ein großer Weidenkorb mit zusammengelegter Bettwäsche. Während Ferru seinen Durst stillt, erzählt mir eine der jungen Frauen, dass sie zwar alle eine Waschmaschine zu Hause haben, aber trotzdem lieber mit den gefüllten Körben und Schubkarren hier zum Fluss kommen, weil dies immer noch ihr Lieblingsplatz ist, wo sie sich treffen und beim Scheuern und Spülen wunderbar plaudern können. Meine Großmutter in den Abruzzen benutzte damals Asche zum Waschen, Seife war zu teuer, oder man wollte nicht zu viel davon verbrauchen. Und ich spreche hier nicht von einer Zeit vor dreihundert Jahren, das war um neunzehnhundertsechzig! Ich lebte mit meinen Eltern in der Stadt, aber wenn zu Hause niemand auf mich aufpassen konnte, brachten sie mich zu Oma und Opa in die Berge.
Ich bedanke mich bei den Wäscherinnen und wünsche ihnen einen guten Tag. Wie ich jetzt mein Moleskine-Notizbuch vermisse, das sich in meinem Koffer befindet. Ich hätte mir den Weg auf ein Stück Papier zeichnen sollen, dann wüssten wir jetzt, wohin wir gehen sollten!
Nachdem Jutta von einer Pinkelpause zu mir und den Eseln zurückgekehrt ist, brechen wir wieder auf. Nach etwa einem Kilometer über Stock und Stein erblicke ich in einiger Entfernung einen Mann auf einem Moped. Ich halte ihn an und erkundige mich nach den Orten in der Nähe, aber was er sagt, klingt für mich wie Chinesisch … Erst nach einer Weile kann ich seinem holprigen Italienisch folgen und entnehme ihm, dass wir – ojemine! – völlig falsch gegangen sind. Das einzige Dorf in der Gegend, Ussana, liege weiter in östlicher Richtung, sagt er und weist mit seiner Hand in die komplett entgegengesetzte Richtung, zurück zum Gatter!
Rette sich, wer kann – Juttas Zorn entlädt sich erneut in einem wütenden Donnerwetter. Die beiden Esel schauen sich an und scheinen zu denken: Es gibt nur zwei Möglichkeiten: nachgeben oder verrückt werden.
»Warum beginnt eigentlich jede Reise von uns mit einem Wunschtraum von dir, und dann enden wir doch immer bei dem Haken an der Sache? Kannst du mir mal sagen, wo wir hier jetzt gelandet sind?«, grantelt Jutta.
»Jutta, es hilft nichts. Wir hätten bei dem Gatter nach rechts gehen sollen …«
Also kehren wir bergauf zurück zum kaputten Gatter, brauchen allein dafür eine Stunde, und folgen dann der Straße nach rechts, die uns in östliche Richtung – und hoffentlich endlich zu Claudios Bruder – führt.
Der Weg bietet ständig neue Ausblicke, Ebenen, Hügel und archäologische Stätten. Wir bleiben stehen und bewundern die Schönheit der Ausgrabungen und die Ruinen einer mittelalterlichen Burg. Dazwischen ein Stau aus Mufflons und wilden Ziegen. Wir reiten langsam weiter und begegnen plötzlich Wildschweinen, die seelenruhig mit der Schnauze im Boden wühlen. Zum letzten Mal habe ich eins in einem Restaurant im Schwarzwald gesehen, aber das war ausgestopft und hing mit geöffnetem Maul an der Wand. Und jetzt starre ich wieder auf Hauer, nur dass diese Tiere hier lebendig vor einem Steinaltar stehen!
»Pssst – genieß diesen Anblick«, zischt Jutta mir zu.
»Zum Henker damit … Hör mal, ich weiß nicht, ob ein Wildschwein schon einmal zwei Maultiere mit einem Paar Esel darauf zerfleischt hat, aber ich habe bestimmt nicht vor, mich von einem Tierarzt auf Sardinien zusammenflicken zu lassen! Ferru und ich, wir drehen um!«
»Die armen Kerle sind hungrig, wir könnten ihnen ein bisschen von der Salami geben, die Anna uns mitgegeben hat.«
»Sei matta? – Spinnst du?«
Ich bemühe mich, ihr begreiflich zu machen, dass man Wildschweine besser nicht füttern sollte, nicht nur, weil ich mir vor Angst beinahe in die Hose mache, sondern auch, weil ich glaube, dass wir sie aus ihrem natürlichen Gleichgewicht bringen, wenn wir ihnen zu nahe kommen, und auch die Esel nervös werden könnten.
In Wirklichkeit wirken die beiden überhaupt nicht erschrocken, sie treiben uns sogar vorwärts. Bis sich ein fetter schwarzer Kerl mit seiner Kehrseite vor uns aufbaut …
»Liebste, hör auf mich, lass uns besser umkehren. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als einem Wildschwein Auge in Auge gegenüberzustehen …«
»Psst. Sei still!!!«
Ich halte meine Angst für durchaus angebracht. Wenn es nach Jutta ginge, müsste ich mich jetzt hinstellen und einen dicken, hungrigen Riesenkeiler mit den Fingern füttern. Nein, vielen Dank.