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Das Riesenschwein dreht sich um, es wird so drei bis vier Zentner wiegen. Als es uns bemerkt, läuft es weg, und die anderen folgen ihm, unter ihnen ein kleines, das höchstens drei bis vier Monate alt ist.

Wir laufen inzwischen neben unseren Eseln her. Ab und zu bleiben die beiden stehen und nehmen Witterung auf, als könnten sie die Anwesenheit anderer Wildschweine riechen. Jetzt bewegen wir uns durch dichtes Unterholz. Auf einmal kommen uns Zweifel, ob wir wieder irgendwo falsch abgebogen sind, obwohl wir uns nie vom Hauptweg entfernt haben. Wir sind seit über zwei Stunden niemandem mehr begegnet, nach dem Weg fragen können wir also nicht. Wobei mich eines wirklich fasziniert: Jedes Mal, wenn wir um eine Auskunft gebeten haben, hat man uns mit Sprichwörtern und Redensarten geantwortet. Ich habe bemerkt, dass die Menschen auf Sardinien, die ausschließlich ihre Sprache, ihren Dialekt kennen, oft auf Redensarten und Sprichwörter zurückgreifen, wenn sie mit einem »Fremden« sprechen. Vielleicht glauben sie ja, dass sie so leichter verständlich sind. Jeder weiß ja, dass sich Sitten und Gebräuche eines Volkes in seinen Sprichwörtern niederschlagen. Es mag an ihrem gefälligen Klang, den Reimen oder der prägnanten Kürze liegen, auf jeden Fall haben sich mir einige von ihnen eingeprägt. Gestern Abend zum Beispiel, als Claudio und ich uns betrunken haben, bevor er mir den Handel mit den Eseln vorgeschlagen hat, habe ich so viele Redensarten vorgesetzt bekommen, dass ich allein darüber ein ganzes Buch schreiben könnte. Sarden sind ironische, scharfzüngige Menschen, ihre Direktheit kann manchmal ätzend und leicht grausam sein. Claudio zum Beispiel sagt einem die Wahrheit klar und hart ins Gesicht, aber er filtert sie immer durch seine kluge Ironie. Schon vormittags auf dem Flughafen, als er mich so allein und verzweifelt unter all den Leuten stehen sah, hat er als Erstes zu mir gesagt: »A paracqua apertha e culu triccia triccia«, womit er mir zu verstehen geben wollte: »Du bist so durcheinander, dass du selbst mit einem Regenschirm in der Hand nass würdest.«

Jutta ist fort. Griesgrämig hat sie die beiden Esel stehenlassen und mir gesagt, sie wolle mich jetzt mal die nächsten zehn Minuten nicht sehen. Ich verstehe sie. Bei diesem Urlaub ist so ziemlich alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte …

Da fällt mir der kleine Zettel ein, den Anna mir von Claudio vor unserer Abreise gegeben hat. Ich hole ihn aus der Tasche. Doch es handelt sich nicht etwa um eine wortreiche Entschuldigung, weil er sich nicht von uns verabschiedet hat, sondern es ist mehr.

»Lieber Bruno,

this is my way. Bevor ich Ziegenhirt geworden bin, habe ich als Schuhputzer gearbeitet und an der Haustür Mittel gegen Durchfall verkauft. Wenn ich weiter Hirte bleiben will, muss ich heute zum Flughafen zurück, um dort meiner Stimme Gehör zu verschaffen. Nehmt mir das nicht übel. Grüß die schöne Jutta von mir, und wenn du in romantischer Stimmung bist, widme ihr diese Serenade, die einer unserer Dichter für seine Frau geschrieben hat und für alle Frauen auf dieser Welt.

Es hat mich sehr gefreut, dass wir uns kennengelernt haben. Viel Glück mit Fil’e und Ferru. Und bitte: Confida in totus et fidadi de pagus – was so viel heißt wie ›Vertraue auf alles, aber traue nur wenigen‹.«

Ich bin gerührt. Der Zettel fällt mir runter, und ich hebe ihn auf. Lese ihn noch einmal. Viele Sätze und Satzteile sind durchgestrichen, vielleicht alles Versuche, die richtigen Worte in einem annehmbaren Italienisch zu finden. Claudio muss vorher schon einige Entwürfe verfasst haben. Es sind nur ein paar Zeilen, aber sie treffen mich genau ins Herz und wecken in mir ein Gefühl ungeheuren Respekts und grenzenloser Dankbarkeit diesem Mann gegenüber. Hin- und hergerissen zwischen Rührung und Bestürzung wird mir auf einmal klar, dass da überhaupt nichts schiefgegangen ist; auf dieser Reise habe ich höchstens noch etwas gelernt. Ich stehe mutterseelenallein mitten in einem verlassenen Tal, und doch fühle ich mich nicht einsam.

Eine Eidechse huscht gerade aus einem Busch, Dutzende weiße Wölkchen jagen sich am Himmel, zwei Ziegen sehen mich mit lebhaften Augen an, und Jutta kommt in diesem Moment zurück. Wie könnte ich mich da einsam fühlen? Vor zwei Tagen stand ich in Rom im Stau zwischen Autos eingeklemmt, dort war ich wirklich einsam.

Vor uns liegt ein kleiner Hügel, auf dessen Gipfel ich die Überreste eines blendend weißen Nuraghe entdecke. Er wurde ganz aus Kalkstein errichtet. Obwohl ich schon eine ungefähre Vorstellung habe, was uns erwartet, gefällt mir der Gedanke, dass ich nicht weiß, welchem Schicksal wir entgegengehen und was wir am Ende dieser Reise mitnehmen.

Ich wende mich an Jutta, sie sieht mich mit vor Müdigkeit glänzenden Augen an.

»Tesoro, erinnerst du dich noch daran, dass du mir gesagt hast, wie sehr du Luxusherbergen hasst und wie gern du einmal eine romantische Nacht unter freiem Himmel verbringen möchtest?«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Und hatte ich dir nicht versprochen, dass wir in Sardinien die Sterne betrachten würden?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Auf gar nichts, denn wir sind schon da. Dieser Nuraghe hat nur auf uns gewartet …«

Die kleine Steinhöhle ist leer, aber deshalb wirkt sie nicht verlassen auf mich, nein, sie vermittelt mir ein Gefühl angenehmer Einsamkeit. Der erste Stern am Abendhimmel zwinkert uns zu. Das muss die Venus sein, die nun ihren grandiosen Auftritt hat. Jutta lehnt sich zu mir herüber, wir sind beide völlig erschöpft.

Non poto reposare, amore e coru

pensende a tie soe donzi momentu.

Non istes in tristura prenda e oru

né in dispiacere o pessamentu.

T’assicuro ch’a tie solu bramo.

Ca t’amo forte t’amo, t’amo, t’amo.

Amore meu prenda da estimare,

s’affettu meu a tie solu est dau.

S’are iuttu sas alas a bolare,

milli bortas a s’ora ippo bolau,

pro benner nessi pro ti saludare  …

Ich finde keine Ruhe, liebes Herz,

und denke jeden Augenblick an dich.

Sei doch nicht traurig, meine Liebste,

und nicht enttäuscht oder sorgenvoll.

Ich schwöre dir, dass ich nur dich liebe.

Denn ich liebe dich innig, ich liebe, liebe, liebe dich.

Meine einzige Liebe, werteste Freude, die ich so achte,

all meine Gefühle sind nur für dich bestimmt.

Besäße ich Flügel und könnte ich fliegen,

schon tausendmal wär ich zu dir geflogen,

wär gekommen, um dich zumindest zu grüßen,

oder auch nur, um dich zu sehen …

Dieses 1926 entstandene Stück stammt von Salvatore Sini, einem Dichter und Anwalt, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt hat, und es ist vielleicht das bekannteste sardische Liebeslied.

Sternengeflüster

Jutta

Unser Nuraghe steht mitten in einem großen Olivenhain, dessen Bäume voller reifer Früchte hängen. Zu meinem Entsetzen hat er allerdings kein Dach mehr. Nur ein ganz kleiner Rest wölbt sich kuppelartig über einen Teil des Gemäuers, das sicher aus einem anderen Jahrhundert stammt. Eine Menge Heu ist darin gelagert und strömt einen wunderbaren würzigen Duft aus. Im letzten Tageslicht bereiten wir uns daraus ein Schlaflager. Unsere Eselchen binden wir an einen Baum. Zur Belohnung lege ich ihnen einen ordentlichen Heuhaufen vor die Füße, und ich hoffe, sie verzeihen mir, dass es für sie kein Wasser gibt, aber das bisschen, was wir noch haben, ist so gut wie unsere einzige Wegzehrung.