»Ich bin in Mali geboren.« Sie sieht mich mit ihren dunklen mandelförmigen Augen intensiv an. »Genau im Dreieck zwischen Algerien und Mauretanien. Ich stamme aus einer Bauernfamilie und habe sieben Geschwister. Mein ältester Bruder ist sehr klug, er ist auf eine höhere Schule gegangen und hat studiert. Er ist Zahnarzt, und alle aus dem Dorf gehen zu ihm hin. Ihn liebe ich besonders, er hat mich immer beschützt, und auch als ich verheiratet wurde, hat er gesehen, dass es mir nicht gutgeht. Er hat mir geholfen zu fliehen, hat ein Auto organisiert, in dem ich mich verstecken konnte. Hat mir Geld gegeben, damit ich auf der Flucht nicht verhungere, und die Adresse eines österreichischen Touristen, dem er vor Jahren geholfen hat. Aber so weit bin ich nicht gekommen. Ich weiß auch nicht, wo Österreich liegt, und hier geht’s mir gut.«
Nun will ich es aber doch genauer wissen, so bitte ich Verenice, mir von ihrer Flucht zu erzählen. Meine Bewunderung für diese mutige und tapfere Frau wächst ins Unermessliche.
»Das Auto hat mich an die Grenze zu Algerien gebracht. Hohe Berge gibt es dort, und man hat mir gesagt, ich muss aufpassen, dass mich keine Soldaten finden, denn sie würden mich sofort erschießen. Dann habe ich noch einen Beutel mit Essen bekommen und eine Flasche Wasser. Ich hatte solche Angst, dass ich nur nachts gelaufen bin. Am Tag habe ich mich versteckt und mir die Richtung eingeprägt, aber ich habe nie gewusst, wohin ich gehe. Gegessen habe ich alles, was ich finden konnte, Käfer, Würmer, Kräuter, und wo immer ich Wasser fand, habe ich so viel getrunken, wie mein Körper aufnehmen konnte. Irgendwann kam ich in ein Dorf, dort habe ich mich versteckt und alles beobachtet. Es gab einen Laden dort, und der wurde beliefert. Man sprach Französisch, und so konnte ich den Fahrer belauschen, als er sich mit jemandem unterhielt. Sie haben über Marokko und die guten Tomaten und Früchte gesprochen und dass er jemanden kenne, mit dem er tauschen würde. In den nächsten Tagen würde er von hier Holz mitnehmen und bekäme dann im Gegenzug frische Lebensmittel, die er dann hierherbringen würde. Ich sah meine Chance und musste nur aufpassen, dass ich die Fuhre nicht verschlafe. Das Baby in mir machte mich immer so müde. Zwei Tage später habe ich mich dann im Laderaum versteckt, und wir fuhren los. Hinter dem Laden gab es Hühner, und alles, was nicht mehr so gut war, wurde hinter das Haus gekippt. Ich habe Kohl und Salat gefunden und auch altes Brot. Davon habe ich mich ernährt.
Meine Reise war unendlich lang. Immer wieder bin ich auf Lastwagen heimlich mitgefahren, denn ich habe große Angst gehabt, vergewaltigt zu werden, wenn sie mich entdecken würden, aber ich hatte Glück. Bei einem Lastwagen, mit dem ich über die Berge ans Meer fuhr, kam der Fahrer aus Deutschland. Er fand mich, als er irgendetwas an seiner Ladung in Ordnung bringen musste. Er hat mich bei sich weiterfahren lassen und mir zu essen und zu trinken gegeben. Wir sind in einer großen Stadt angekommen, heute weiß ich, dass es Tanger war. Dort musste ich ihn verlassen. Wir waren am Hafen, und ich wusste nicht weiter. Meine Verzweiflung und meine Sehnsucht, nach Hause zurückzukehren, waren so groß. Mein Bauch jedoch auch, und ich wusste, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte. Zurück konnte ich nicht mehr, also musste ich nach Österreich kommen, und das ging nur über das Meer. Tagelang versuchte ich eine Möglichkeit zu finden, auf eines der großen Schiffe zu kommen, aber die wurden bewacht, und ich durfte nicht der Polizei in die Arme laufen. Auf dem riesigen Hafengelände arbeiteten viele Afrikaner, einer hatte mich bemerkt und sprach mich an. Zuerst hatte ich große Angst, aber er war nett und versprach, mir zu helfen. Er nahm mich mit in ein Lokal und gab mir eine warme Mahlzeit. Huhn mit Gemüse und Couscous. In meinem ganzen Leben werde ich diesen göttlichen Geschmack nicht mehr vergessen!
Dieser Afrikaner hat mich einem anderen Mann vorgestellt. Er war aus Tunesien, und er kannte jemand, der ein Boot hatte. Er nahm alles Geld, was ich hatte, und brachte mich bei Nacht ein paar Tage später zu einem versteckt liegenden kleinen Schiff. Es waren bereits ganz viele Menschen darauf, und man konnte nur stehen, als wir auf das Meer hinausfuhren. Ich hatte wiederum Glück, weil ich in der Mitte stand und mich an der Kajüte festhalten konnte. Das Schiff hatte einen starken Motor, und wir kamen gut voran. Man sagte mir, wir würden bei Nacht in Italien ankommen, und da würde jemand auf uns warten, der uns weiterhilft. Die Fahrt sei nur kurz, denn das Meer war hier nur ein paar Kilometer breit. Nach ein paar Stunden jedoch ging unser Motor kaputt, oder wir hatten kein Benzin mehr. Das Meer trieb uns immer weiter vom Land weg, und es kam ein schrecklicher Wind auf. Allen war schlecht, und wir mussten uns übergeben. Das Boot schaukelte gefährlich hin und her, ich hatte Todesangst. Nach einiger Zeit fiel ein Mann von Bord, er konnte nicht schwimmen, und als andere versuchten, ihn rauszuziehen, hat er sie ins Meer mitgenommen. Es brach Panik aus, und alle schrien in der Dunkelheit durcheinander. Ich habe mich festgeklammert und gebetet. Unser Boot lief langsam voll Wasser, und ich dachte, das würde ich nicht überleben. Mein Kind würde niemals geboren werden, und ich könnte niemals frei sein! Dann ging alles ganz schnell. Lichter tauchten vor uns auf, und wir hörten laute Rufe. Fast hätten uns zwei Fischkutter überfahren. Sie hielten an und retteten uns vor dem Ertrinken. Sie nahmen uns an Bord und verständigten, wie ich später erfuhr, eine wohl in der Nähe liegende Insel mit dem Namen Lampedusa. Man wollte nicht, dass wir da hinkommen, und versuchte uns mit anderen Schiffen abzudrängen, aber der Kapitän hat es geschafft anzulegen. Ein Helikopter brachte mich und eine andere Schwangere nach Sizilien in ein Hospital. So wurde mein Kind in Palermo geboren, und wie durch ein Wunder haben wir beide überlebt.«
Die Schlichtheit, mit der mir Verenice ihre Geschichte erzählt, wirft mich um. Tränen laufen mir runter, und ich umarme sie. Wie viel schreckliche Details sie ausgelassen hat, um mich zu schonen, möchte ich mir gar nicht vorstellen.
Mittlerweile haben wir alle Oliven sortiert.
Die Männer entleeren wieder ihre Körbe auf die Tücher.
Bewundernd schaue ich zu meinem Bruno. Selten, oder eigentlich noch nie, habe ich ihn so richtig körperlich arbeiten sehen. Bruno ist der Mann, wie meine Mutter so schön sagt, der den Garten ansieht, während andere ihn bestellen. Auch wenn er mit mir mal kocht, isst er eigentlich nur, er behauptet, mir zu helfen, aber stibitzt nur mein Geschnippeltes. Selbst abspülen darf ich ganz alleine, da will er mich nicht stören. Aber hier! Ich bin erstaunt! Vielleicht merkt er gar nicht, dass er arbeitet, so angeregt ist das Gespräch unter den Männern. Worüber sie wohl reden? Ob sie ihm auch Fluchtgeschichten erzählen, oder sind es so typische Männergeschichten über alte Lieben, versoffene Nächte und ordentliche Schlägereien? Ich werde ihn später ausquetschen, nehme ich mir ganz fest vor. Heute Nacht werde ich ja gottlob endlich in meinem hoffentlich gemütlichen Hotelbett schlafen. Eine Gesichtsmaske werde ich mir auflegen, damit ich morgen bei der Hochzeit schön bin! Wenn bloß die Koffer angekommen sind, mein neues kobaltblaues Kleid wird gänzlich verknautscht sein! Aber es gibt bestimmt irgendwo ein Bügeleisen! Was mach ich mir über solche Kleinigkeiten Sorgen, nach den drei Tagen, die ich beinahe hinter mir habe?
So vergeht dieser Tag mit viel Lachen und Reden. Da wir fleißige Helfer sind, dürfen wir auch am Mittagstisch teilhaben. Es gibt Salat aus Hirse mit kleingeschnittenen Gemüsestückchen, das übriggebliebene Brot und den Käse. Man isst mit den Fingern, Afrika auf Sardinien, sehr lustig. Auch die anderen Frauen öffnen sich für Gespräche, und so erfahre ich Schicksale, die mich ganz demütig machen, angesichts meiner läppischen Unannehmlichkeiten der letzten Tage. Wie viel Grausamkeiten es auf dieser Welt gibt, und was ein Mensch alles aushalten kann. Welche Demütigungen er zu ertragen hat, wie er seinen Stolz begraben muss, um überleben zu können, und welche Heiterkeit er sich trotzdem bewahren kann. Niemand kann sich aussuchen, in welchem Teil dieser Erde er geboren wird, aber ein jeder hat die Möglichkeit, für ein besseres Leben zu kämpfen. Diese Menschen, die uns so freundlich aufgenommen haben und das bisschen, was sie haben, mit uns teilen, haben unter Einsatz ihres Lebens gekämpft. Ich hoffe für sie, nicht vergeblich.