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»Ein Mistral zieht auf«, ruft er. Ein für Sardinien typischer Wind, nicht wirklich schlimm und auch nicht außergewöhnlich, die Menschen hier sind ihn gewohnt. Er kommt meist mit Regen, entlädt sich, hält kurz und heftig an, um anschließend das sanfteste Licht und Wärme zu verbreiten.

»Geh mit dem Esel in den Nuraghe und bringt euch in Sicherheit, ich suche mein dummes Tier und bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten verschwindet er.

Ich binde meinen sehr beunruhigten Esel – schließlich hat sich der Gefährte aus dem Staub gemacht – los und zerre ihn in unseren Unterschlupf. Gar nicht so einfach, diesen bockigen, sich mit allen vieren wehrenden Esel gegen seinen Willen auch nur einen Schritt vorwärtszubringen. Ich ziehe und zerre, rede freundlich, dann wieder zornig auf Fil’e ein, singe ihm ein Lied, und schließlich reißt mir der Geduldsfaden, und ich schreie ihn aus voller Kehle laut bayrisch fluchend an: »Kruzifix, verdammtes Vieh, geh endlich vorwärts.« Just in diesem Augenblick fährt ganz in unserer Nähe ein gewaltiger Blitz herunter, dem Sekunden später ein noch stärkerer Donner folgt. Ich bin halb im Nuraghe, der Esel am Strick halb draußen, er macht einen Satz nach vorne, ich fliege nach hinten auf meinen Allerwertesten, während ich immer noch den Strick in den Händen halte. Kurz bevor sich mein Maultier umdrehen kann, um das Weite zu suchen, kann ich mich gegen einen Stein stemmen. Nun bin ich fest verkeilt, nur loslassen darf ich nicht. Er will steigen, dann will er ausschlagen, aber der Nuraghe ist zu klein, und er schlägt den Huf an die Wand. Mein Fil’e iaht ganz jämmerlich, und ich hab ordentlich Angst vor dieser Eselskraft. Als er sich ein bisschen beruhigt, rapple ich mich auf und umarme seinen Hals, dann binde ich ihn an einem Pfosten vor dem Nuraghe an und bete, dass Bruno bald kommt.

Er kommt tatsächlich kurz darauf, ganz offensichtlich hat er mit Ferru dieselben Probleme. Bruno hangelt sich von Baum zu Baum, wobei er immer wieder den Strick festzurrt, um dann von hinten den Esel anzuschieben. Inzwischen hat mit diesem Donner ein sintflutartiger Regen eingesetzt. Er ergießt sich über uns, der Nuraghe ist in Minuten völlig durchnässt, und der mit Heu bedeckte Boden verwandelt sich in Schlamm. Blitz und Donner lassen nach, ziehen mit der Geschwindigkeit des Mistrals weiter. Nach wenigen Minuten ist alles vorbei. Kein Wind mehr, kein Regen, das Gewitter donnert in der Ferne und richtet dort seinen Schaden an. Um das Schauspiel zu vervollständigen, kommt die untergehende Sonne mit ihrem letzten Licht durch die vorüberziehenden Wolken und hüllt den Olivenhain in ein Orangerot.

Klitschnass sind wir, zittern am ganzen Leib, teils weil uns saukalt ist und teils weil wir mal wieder an unsere Grenzen gestoßen sind. Was, wenn wir doch nicht abgeholt werden?

Bruno kann sich das nicht vorstellen. Der Gutsbesitzer sei ein Ehrenmann, da würde er sich nicht täuschen. In Sardinien gelte ein Handschlag noch als Versprechen. Wir müssten uns vielleicht noch ein bisschen gedulden.

»Ja, wir gedulden uns, aber kannst du das bitte machen, indem du mich ganz fest umarmst, dann ist mir nicht so kalt«, sage ich zu meinem Ritter.

So stehen wir, uns gegenseitig wärmend, im Matsch und setzen auf die Ehre des Marchese.

Regenküsse

Bruno

Während wir auf den kleinen Hügel steigen, wo der Nuraghe liegt, verfolgen uns seltsame Wolken, als wollten sie uns etwas ankündigen. Fil’e und Ferru, die an einem Busch festgebunden sind, fangen an zu stampfen und ziehen die Oberlippe hoch. Vielleicht jagt ihnen ja dieser Horizont Angst ein, der sich so verfärbt hat, jedenfalls reißt Ferru sich plötzlich los und galoppiert davon wie ein Irrer. Jutta versucht Fil’e zu bändigen, der natürlich hinterherwill. Irgendwie gelingt es ihr, das Maultier bei dem Nuraghe anzubinden. Ich verfolge unterdessen Ferru. Ich weiß nicht, wie, aber er hat es geschafft, einen ein Meter hohen Stacheldrahtzaun zu überspringen, und versteckt sich jetzt hinter einem riesigen Strohrad. Da er sich nun in Sicherheit glaubt, legt er sich hin und reibt sich den Rücken am Boden. Der Himmel verfinstert sich immer mehr, und die dicken Wolken scheinen gleich unter ihrer Regenlast zu platzen. Das scheint Ferru unheimlich zu sein, denn er kommt zu mir zurück. Mühsam, von Baum zu Baum, geht es zurück zum Nuraghe. Es ist fünf Uhr. Zuerst gibt es einen Blitz. Dann einen laut dröhnenden Donner. Es fängt an zu regnen, und Valdes lässt sich nicht blicken. Die beiden Tiere strecken uns ihre Mäuler hin, als wollten sie uns mit dem Hals umarmen. Der warme Atem aus ihren Nüstern streichelt unsere Gesichter, und wir erwidern gern ihre Liebkosungen. Ein unbeschreibliches Gefühl. Jetzt haben wir schon über einen Tag nicht auf ihnen gesessen, und da fehlen sie uns bereits. Was für eine Szene! Erst die Wolken, dann der Regen und das Gewitter und wir vier unter einem Netz, das wir zum Schutz über uns gebreitet haben.

Wir küssen uns. Diesmal mit Leidenschaft. Wie im Film. Diese ganze Reise ist wie ein Film, und das könnte die letzte, die Schlüsselszene sein, in der sich die Helden heftig und leidenschaftlich im Regen küssen. In diesem Moment muss ich an den Kuss aus Frühstück bei Tiffany’s denken, wo sie sich ganz zum Schluss verzweifelt küssen, während es wie aus Eimern gießt. Aber das hier ist kein Film, und unser Kuss dauert auch nicht sehr lange, weil ich niesen muss: Hatschiii! Wenn es weiter so schüttet, werden wir noch krank, und wenn Valdes uns nicht holen kommt, müssen wir die ganze Nacht mit nassen Klamotten und Haaren herumlaufen.

»So holen wir uns noch Schnupfen, Husten und eine Lungenentzündung obendrein!«

Während es weiter regnet und donnert, fällt mir nichts Besseres ein, um die Zeit zu vertreiben, als mit lauter Stimme jede Menge Blödsinn über berühmte Küsse im Regen vor mich hin zu monologisieren.

»Der dauert ja nicht nur zwei Minuten … nein … da ist ja noch der ganze Streit vorher im Taxi, ungefähr eine Minute lang, dann der intensive Blick, wenn sie aus dem Taxi steigen … das ist noch einmal eine Minute … dann die zwei Minuten im strömenden Regen, und Audrey Hepburn muss auch schön niesen. Dann, warte, kommt die Szene … Haatschii!«

»Gesundheit!«

»Danke, und denk doch nur an diese andere Feuchtküsserei mit Tom Hanks und Helen Hunt in Cast away …«

»Lustig war das in Vier Hochzeiten und ein Todesfall

»Phhh, noch lustiger war der in Spider-Man, wo sie ihn küsst, während er kopfüber hängt!«

»Na ja, unser Kuss könnte auch ganz schön romantisch sein, wenn du dir nur diese großen Tropfen unter der Nase abwischen würdest!«

»Weißt du, Jutta, was die Stimme aus dem Off am Anfang von The Portrait of a Lady mit Nicole Kidman erzählt? ›Der schönste Moment eines Kusses ist, wenn du siehst, wie sein Gesicht immer näher kommt und du begreifst, dass er dich gleich küssen wird. Dieser Augenblick davor ist etwas Wunderbares.‹«

Von Nordwesten kommt ein heftiger Wind auf.

»Spürst du den Mistral, amore? Der alles fortweht, auch die Traurigkeit.«

Unser Kuss wird wieder leidenschaftlicher. Plötzlich versucht Jutta, sich aus meiner Umarmung zu lösen, als ob sie etwas gesehen hätte. Sie holt Luft und will mir etwas sagen, aber ich verstehe sie nicht beziehungsweise verstehe sie falsch. Ich komme noch näher, ziehe sie fest an mich und verschließe ihr die Lippen mit einem neuerlichen Kuss. Wie überwältigt weicht sie vor mir zurück. Mit einer Hand wühle ich ungeschickt in ihren feuchten Haaren. Wieder suchen meine Lippen die ihren, aber nicht mehr zärtlich, sondern wie ausgehungert. Nicht einmal das Phantom der Oper hätte das besser hingekriegt. Ich sehe, wie sich ihre Augen weiten, als sähe sie das abscheulichste Monster auf Erden vor sich. Fast schon glaube ich, dass ich sie mit meiner Glut erschreckt habe. Doch ihr letzter Schrei ist mehr als deutlich: