»FERRU IST WEG! ER IST WIEDER AUSGEBÜXT!«
Ich glaube fest daran, dass der Esel nicht allzu weit fortgelaufen ist. Die hohen Schornsteine dort hinten werden wohl zu dem Zementwerk gehören, auf das Yassouf vorhin so geschimpft hat. Der verdammte Staub, der dort entsteht, legt sich auf alle Pflanzen in der Gegend und richtet an den Olivenbäumen gewaltigen Schaden an. Die angeschlossenen Gruben, in denen Kalk und Sand abgebaut wird, verschandeln die Landschaft und vernichten auf dramatische Weise das kulturelle Erbe dieser Insel. Wieder so ein Fall in unserem Italien, wo alles wirtschaftlichen und politischen Interessen geopfert wird. Vielleicht sollte ich da nach ihm suchen? Die Hügel sind dicht mit Steineichenwäldern und Buschwerk von Myrte bewachsen. Die Gegend hier ist völlig verlassen. Ich bin mutterseelenallein in der feierlichen Stille dieses Abends.
»FERRU! FERRU!«
Nichts. Nicht einmal ein »Ii-aah« aus weiter Ferne. Jetzt sehe ich das Zementwerk deutlich vor mir liegen. Aus einem der Schornsteine quillt noch Rauch. Lastwagen parken vor dem Haupttor. Jemand hat mal gesagt, auf Sardinien könne man wie im Paradies leben. Das stimmt. Aber wenn ich an diese Monster aus Stahl und Gummi denken muss, die soeben wieder einen Kalksteinbruch ausgebeutet haben, werde ich nachdenklich. Könnte dieser Kalkstein doch nur reden! Wieder schiebt sich ein Lastwagen in die Basis: Wie ein Schleier liegt der Staub in der Luft. Zwei Gestalten mit einem Bauhelm auf dem Kopf steigen herab … Ich kann sie vor mir sehen, wie sie am Rand einer Grube darauf warten, dass der Sprengmeister die Ladung zündet. Gespannt lauern sie auf den Donner der Explosion. Und dann ist er da, der Moment, wenn die Erde unter ihren Füßen bebt und die kleinsten Steinchen zu zittern beginnen, als ob sie irgendeine unsichtbare Hand sieben wollte. BUUMM! Ich sehe, wie nach der Zündung Staub aufsteigt und auf halber Höhe in der Luft stehen bleibt. Der Sprengmeister freut sich, während der Baggerführer seine kraftvolle Maschine anwirft. Der lange Schaufelarm setzt gleich am tiefsten Punkt an, um das Gestein abzubauen. Die Arbeit ist beendet. Langsam legt sich der Staub, und die beiden machen sich wieder zum Zementwerk auf. In der Luft bleibt der staubige Schweif eines verhängnisvollen Kometen zurück.
Plötzlich taucht eine geisterhafte Erscheinung aus dem Nichts vor mir auf. Ferru! Energisch schüttelt er sich den Staub ab. Folgsam kommt er auf mich zu und fordert mich mit seinem Blick auf aufzusitzen. Einsam reiten wir über die weiße Straße, die uns zurück zum Nuraghe bringt. Die Natur scheint sich vom Gewitter zu erholen. Die Luft ist wieder warm, und man sieht schon die ersten Sterne. Ich blicke wie durch ein Fenster auf das vor mir liegende Tal, betrachte die still vor mir liegende Welt, alles ist ruhig und friedlich. Ich denke – fasziniert von der Vorstellung – an die unendlichen Staus auf den Autobahnen, an lange Schlangen vor Schaltern, beim Bäcker, in den Gässchen der Ferienorte und am Strand. Ich lehne den Fortschritt ja gar nicht ab, oder alles Moderne, ganz im Gegenteil. Vielleicht habe ich mich gerade ein wenig zu sehr über die Zementwerke aufgeregt. Aber ich wehre mich dagegen, welches Leben uns dieser Fortschritt aufzwingt. Auf einem Esel zu reiten ist unbequem, das weiß ich selbst. Aber bei den steigenden Benzinpreisen verschwendet man vielleicht mal einen Gedanken daran. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Warum also ein eher unbequemes Transportmittel benutzen, das schwitzt, das müde wird, das gepflegt werden muss und sehr langsam ist? Darauf gibt es eine gute Antwort: Der Esel ist ein lebendiges Wesen. Er braucht uns. Er versteht uns. Ihm geht es gut, wenn wir uns bessern. Er ermöglicht uns einen erholsamen Kontakt zu der Natur, in einer stillen, unbekannten Landschaft.
Der Mond scheint. Sein Licht, das sich auf dem noch feuchten weißen Kies spiegelt, ist ein schweigsamer Freund, der uns stetig folgt, ohne uns zu stören. Wir gehen im Schritt, und ich streichle den Esel. Ein Ausdruck meiner Dankbarkeit. Was für ein schönes Gefühl, auf der Welt zu sein und diese beiden Ohren vor sich zu beobachten, die glücklich zucken, weil sie ihren Herrn wiedergefunden haben. Ein stummes Dankgebet steigt in mir auf. Danke, mein Freund! Wir sind gleich da. Wenn ich auf deinem Rücken mit fünf oder sechs Kilometern in der Stunde unterwegs bin, dann genieße ich jeden zurückgelegten Meter, jede Pflanze auf deinem Weg, jeden Wurm, den du nicht zertrampelst und der sich nicht vor dem gleichförmigen Klappern deiner Hufe erschreckt. Was für ein unbeschreiblicher Duft steigt von diesen Myrtenbüschen auf! Jetzt sind wir schon auf dem vorletzten Stück Weg vor dem Olivenhain. Wir bewegen uns nun in leichtem, gleichmäßigem Galopp vorwärts. Noch ein kurzes Stück hinunter, und dann wird es eben. Ein großartiges Gefühl, das nur der verstehen kann, der es selbst erlebt hat. Im Grunde genommen müssen wir selbst entscheiden, wie wir leben wollen. Und wenn wir schon auf so vieles verzichten wollen, kann uns doch ein Ausschnitt, ein kurzes Eintauchen in die Schöpfung mehr bringen, als wir zu hoffen wagen.
Ein Fuchs oder ein Hase flitzt vor uns über die Straße. Ich bewundere die Granitfelsen des Linas-Gebirges vor dem verschwommenen Horizont. Noch ein Stück, und wir haben es geschafft. Jutta und der Marchese erwarten uns. Der Jeep mit dem Pferdeanhänger parkt vor dem Nuraghe. Wir sind zurück. Geraldo Valdes freut sich wie ein kleines Kind und sieht mich wieder mit einem breiten Lächeln an.
Hoch über uns leuchtet strahlend der Mond, aber noch mehr strahle ich bei der Aussicht auf etwas Wärmendes, das bald für uns bereit ist.
Der Jeep mit dem Pferdeanhänger fährt die lange beleuchtete Allee hinauf, die zum Eingang des alten Anwesens führt. Es geht auf das fünfzehnte Jahrhundert zurück und ist seitdem im Besitz der angesehenen Familie, deren Namen es trägt. Der gesamte Gebäudekomplex wurde auf Betreiben des Marchese von Grund auf renoviert, doch er betont ausdrücklich, dass er dies ohne professionelle Hilfe geschafft hat und es nur nach seinem Geschmack herrichten ließ. Es ist zu einem charmanten Anwesen geworden. Wir parken unter einem breiten Bogengang mit zwei großen Blumentöpfen aus Sandstein. Dann steigen wir aus und überlassen die Esel der Obhut des Stallknechts.
Zu Besuch bei Signor Valdes
Jutta
Es ist sicher eine Stunde vergangen, als endlich Scheinwerfer auftauchen. Mittlerweile ist es stockdunkel. Der Marchese ist mit einem Landrover und Pferdeanhänger gekommen. Sein Gesicht spricht Bände, als er mich in all meiner durchnässten Jämmerlichkeit sieht. Er küsst zur Begrüßung mit einem Diener meine eiskalte feuchte Hand und sagt in akzentfreiem Italienisch: »Es ist mir eine Ehre, Signora.«
Als ich gerade darüber nachdenke, ob ich mich nun veräppelt fühlen sollte oder ob er eventuell durch meinen Dreck hindurch meine wahre Seele erkannt hat, taucht Bruno mit Ferru auf.
Mit geübter Hand und gebührender Strenge befördert der Marchese die beiden Maultiere in den Hänger.
Als ich auf den Rücksitz seines Landrovers klettern will, signalisiert mir Bruno, dass es wohl besser wäre, mit in den Anhänger zu steigen. Wahrscheinlich möchte er nicht, dass wir die gräflichen Polster beschmutzen. Enttäuscht folge ich ihm, und wir quetschen uns zwischen unsere beiden Freunde.
Wir haben unsere liebe Not, nicht umzufallen. Der Hänger hoppelt über den unebenen Boden, die Esel und auch wir stemmen uns in die Kurven, halten uns gegenseitig. Keiner von uns vieren findet das lustig, und als wir nach einer schier unendlich langen Fahrt endlich zum Stehen kommen, ist uns schlecht.