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»Ich frage mich, wie viel Spanisches im Charakter und in der Kultur dieses Landes steckt?«

»Überhaupt nichts. Lieber Freund, ich bin hier auf Sardinien geboren. Das ist die Gegend, die mit der höchsten Zahl von über Hundertjährigen das wertvolle Geheimnis eines langen Lebens bewahrt. Wussten Sie das? Und doch kann ich Ihnen versichern, dass meine Vorfahren, wie die Römer, die Araber und die Byzantiner, mit dieser Zähigkeit nichts zu tun haben. Und genauso wenig mit dem Charakter der Sarden und ihrer Kultur. Sarden sind Sarden. Schon immer gewesen. Und all diese Eroberer haben diese grundsätzliche Unveränderlichkeit ermöglicht, die Sie in den Orten und bei den Menschen bemerkt haben. Das Geheimnis verbirgt sich nicht hinter den Knollennasen oder den hervorquellenden Augen, o nein … Das Geheimnis liegt in unseren ungebrochenen und stolzen Herzen. Es liegt darin begründet, dass sich das Volk dieses Landes, mein Volk, niemals fremden Einflüssen geöffnet hat. Deshalb wird dieses Land Paradisola genannt, weil man gleich bei der Ankunft das Gefühl hat, in einem ursprünglichen Land mit ganz authentischen Menschen gelandet zu sein. Und es spielt keine Rolle, warum das so ist. Sie sind zum Beispiel zur Hochzeit Ihres Vetters gekommen, und das Schicksal hat Ihnen ein paar unvorhergesehene Eindrücke schenken wollen, eine Extratour, eine Überraschung nach der anderen. Sie sollten sich darüber freuen. Ach, was sage ich! Unglaublich glücklich sollten Sie sich schätzen! Sie haben mehr erlebt, als Sie je gedacht hätten. Was glauben Sie denn, was Ihnen alles entgangen wäre, wenn es keine Demonstration am Flughafen gegeben hätte? Sie machen gerade eine wunderbare Erfahrung. Und das wissen Sie auch! Da haben Sie später etwas zu erzählen. Noch etwas Myrtenlikör?«

»Vielen Dank, vielleicht noch einen Schluck … Ich werde meinem Vetter auf ewig dankbar sein.«

»Darf ich Ihnen noch ein paar Zeilen vom großen Fabrizio De André vorlesen, ehe wir zu Bett gehen?«

»Mit größtem Vergnügen, diesen cantautore schätze ich ganz besonders …«

»Das Leben in Sardinien ist vielleicht das Beste, was ein Mensch sich wünschen kann: Vierundzwanzigtausend Kilometer Wald, Landschaft und Küste, die an ein wunderschönes Meer grenzen, das müsste doch das sein, was man Gott empfehlen kann, uns als Paradies zu schenken.

Auf dein Wohl, Bruno!«

»Auf deines, Geraldo!«

4. Tag – Sonntag

Aufbruch nach Gesturi

Jutta

Mein Rücken, mein Hals und mein Schulterbereich sind völlig verspannt, als ich aufwache. Was für ein idiotischer Traum! Während ich versuche, mich zu orientieren, und meine Augen langsam öffne, wird mir schwindelig. Auch ist mir leicht übel. Ich drehe mich auf die Seite, um langsam den Morgen in mir ankommen zu lassen. Sicherlich habe ich mich in der Nacht tausendmal herumgedreht und spüre deshalb die Verspannungen. Dieses Bett ist aber auch schrecklich für zwei Menschen. Es ist durchgelegen, und man kullert automatisch in der Mitte zusammen. Das mag ja manchmal ganz schön sein, aber nicht, wenn man einen erholsamen Tiefschlaf braucht. Das Nachthemd hat sich um meinen Leib gewickelt, und immerzu drückte mich eine Falte. Dazu diese blöden Spitzen, die entweder im Gesicht kitzeln oder sich zusammenwurschteln und aufs Schlüsselbein drücken. Mein Gott, ich bin wie gerädert, dabei hatte ich mich doch so auf ein richtiges Bett gefreut. Fast möchte ich sagen, dass der Nuraghe bequemer zum Schlafen war als diese von pikenden Sprungfedern unterlegte Lottermatratze. Plötzlich wird mir klar: ES IST DAS BETT DER ALTEN!!!!

Kein Wunder, dass ich einen Alptraum hatte! Wer weiß, vielleicht ist sie sogar darin gestorben!!!

Ich will nur noch raus aus diesem Bett, aus diesem Zimmer, aus diesem Haus! Meine Hände packen Brunos Schultern, und ich rüttle ihn wach.

»Bitte steh auf, Schatz, ich halte es hier nicht länger aus, lass uns sofort verschwinden, hier gibt’s böse Geister.«

Bruno, der bislang eine hohe Meinung von meinem geistigen und seelischen Zustand hatte, ist verwirrt. Verschlafen sieht er mich an.

»Wie spät ist es denn? Leg dich noch mal hin, ich muss noch zu Ende schlafen, hab grad so was Schönes geträumt.« Damit rollt er sich wieder ein.

Weiterschlafen geht für mich überhaupt nicht, also steige ich aus den Federn, laufe zu den Fenstern, schiebe alle Vorhänge beiseite und öffne weit die Flügel, um das Morgenlicht mit seinem feuchten Tau hereinzulassen. Nachdem ich meine Lungen mit wohltuendem Sauerstoff vollgepumpt habe, geht es mir ein wenig besser. Ich lehne mich aus einem Fenster, um die Umgebung zu inspizieren. Vor mir liegt ein herrlicher Park. Auf sattem Grün stehen vereinzelt Zypressen und andere Gehölze, kleine Kieswege schlängeln sich zu einem Pavillon, in dem ich eine Gestalt sehe, die langsame Bewegungen ausführt. Was macht der da? Es sieht aus, als ob sich jemand wie in Trance bewegt. Vielleicht praktiziert er Zen, die Kunst des Bogenschießens? Als ich noch am Englischen Garten in München lebte, habe ich oft ganze Gruppen von Menschen gesehen, die sich im frühen Morgenlicht dieser Meditation hingegeben haben. Ich selbst mache seit über zwanzig Jahren Yoga und habe dazu einige Übungen aus dem Qigong übernommen. Zen jedoch ist eine erweiterte Stufe, in die ich bislang noch nicht eingetreten bin.