»Entschuldigen Sie mal, aber die Prozession war nicht ausgewiesen«, sage ich, aus dem Fenster gelehnt. »Sonst steht da immer ein Polizeiwagen am Anfang der Prozession und hält den Verkehr an. Warum hat denn hier niemand dafür gesorgt?« Wir bleiben eine gute Stunde lang auf dieser engen, überlaufenen Landstraße stecken und können nicht einmal aussteigen. Die Augen der Marienstatue auf dem riesigen, mit herrlichen Teppichen, Weizenähren und Girlanden aus Myrten geschmückten Wagen ruhen starr und unbeweglich auf uns, als wollten sie uns Trost spenden. Endlich kommt ein Pfarrer, der die letzten Karren anweist weiterzufahren. Die Belagerung ist vorbei. Wir ziehen hin in Frieden.
Von der Staatsstraße nehmen wir die Abzweigung nach Barumini, von dort die Straße nach Gesturi. Es ist unglaublich spät, wir werden es nie schaffen, bei Giulias Eltern vorbeizufahren, um uns umzuziehen. Und ich würde so gern in Su Nuraxi haltmachen. Das ist die bedeutendste Ausgrabungsstätte von ganz Sardinien, von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt, aber wir müssen uns damit begnügen, diese imposante und geheimnisvolle Nuraghenfestung vom Fuß des Hügels aus zu bewundern.
Kurz nach halb zwölf erreichen wir endlich Gesturi und parken auf dem Hauptplatz direkt vor der Kirche der heiligen Teresa von Avila. Sofort werden wir buchstäblich von einigen Musikern der örtlichen Kapelle überfallen, die einen Marsch für den Auszug der Frischvermählten aus der Kirche proben. Sie betrachten uns neugierig, die Frauen mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen, die Männer unverschämt grinsend. Na sicher, in unseren speckigen Klamotten und eingequetscht wie Sardinen in dieser schrottreifen Ape machen wir wirklich nicht viel her! Jutta weigert sich auszusteigen, sie meint, sie würde sich zu sehr schämen. Die Gäste sind schon alle in der Kirche, jetzt fehlen nur noch wir – und die Braut. Die Glocken läuten bereits, und ich habe noch nicht einmal die Trauringe abgeholt!!! Ich hoffe im Stillen, dass Maurizio sie mitgebracht hat.
»Aber wenn du gesagt hast, dass wir bei Giulias Eltern vorbeifahren, glaubt er jetzt sicher, dass du sie hast!«
Jutta hat recht. Aber was soll ich tun? Die Zeremonie beginnt. Und dann ist auch noch die Posaune da draußen, das heißt, der Mann, der die Posaune spielt und uns unverständliche Zeichen macht.
»Was der wohl hat?« Ich kurble das Seitenfenster runter, um zu hören, was er will.
»Disiggiate?« Aha, er fragt, was wir wollen.
»Guten Tag, ich bin der Trauzeuge des Bräutigams … Aufgrund einiger unglücklicher Umstände konnten meine Frau und ich uns noch nicht für die Trauung umziehen. Wir sind spät dran und möchten hier parken.«
»Ach so, in Ordnung.«
Ich stelle mich an den Straßenrand und steige aus. Alle, einschließlich der Klarinette und des Fagotts, starren mich unentwegt an. Jutta fühlt sich genauso beobachtet und bedeckt ihr Gesicht mit der Hand. Die Posaune trägt ein rotschwarzes Wams, die Große Trommel, eine schöne, etwas reifere Signora, ein vergoldetes Leibchen, einen roten Rock und auf dem Kopf einen weißen Schleier. Das Fagott trägt die typische schwarze Stoffmütze der Sarden und eine Weste aus Widderleder mit der Fellseite nach außen. Nach und nach trauen sich auch die Becken, die Oboen und die Piccoloflöten heran. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, alle reden so schnell durcheinander, und ich verstehe kein Wort. Ich versuche es mit dem Dirigenten der Kapelle, der mir gerade mit dem Taktstock auf die Schulter klopft und mich anstrahlt. Ich erkläre ihm das Problem mit den Trauringen und der Festtagsgarderobe. Er denkt kurz nach, dann ruft er einen Jungen zu sich und flüstert ihm etwas ins Ohr. Er ist noch nicht fertig, da saust der schon los wie eine Rakete. Dann richtet er den Taktstock auf die Große Trommel, die wieder der Klarinette zuzwinkert. Der Musiker klettert blitzschnell hinten in einen Kleinbus mit der Aufschrift »Banda Municipale«. Es vergehen keine dreißig Sekunden, da kommt er mit zwei dicken, auf Metallbügeln hängenden Gewändern zurück. Sie sind wunderschön, fein genäht und bestickt, eins ist für mich, das andere für Jutta.
»Zieht das an.«
Inzwischen sind sogar die traccas der Brautleute eingetroffen. Ein Karren prächtiger als der andere! Maurizio steigt aus und geht in Richtung Kirche. Giulia bleibt stehen und plaudert mit ihren Brautjungfern, während sie darauf wartet, dass ihr Vater sie abholt, um sie zum Altar zu führen. Unentschlossen stehe ich vor diesen beiden Gewändern.
»Zieht das an!«, beharrt der Dirigent.
Ich sehe, wie Giulias Vater in einem alten Fiat 500 ankommt, aussteigt und mit einem wunderbaren Bukett aus weißen Rosenknospen und Lilien auf sie zugeht. Mir bleibt keine Zeit. Ich reiße der Klarinette das Gewand aus der Hand, verschwinde hinter der Kirche, reiße mir die Hose vom Leib, lege Jacke und Hemd ab, und im Nu habe ich mir das schwarzrote Wams angezogen.
Auf meinem Weg zurück sehe ich, wie die Brautjungfern vor Giulia Aufstellung nehmen, ihr Vater reicht ihr den Arm. Sie wollen gerade die Kirche betreten, als der Kleine von vorhin schweißbedeckt mit einem roten Samtsäckchen in der Hand zurückkommt.
»Gott sei Dank, die Ringe!«
Der Dirigent, der sich an die Ape gelehnt hatte, wendet sich mit einem nicht ganz eindeutigen Blick – ist es ein schelmisches Augenzwinkern oder doch eher Mitleid? – zu mir und trommelt ungeduldig auf den Seitenspiegel; die Posaune bringt einen langen Misston heraus, die Große Trommel und alle anderen Musiker schreien: »AJÒ!«
Ich renne in die Kirche. Gerade spielt die Orgel die ersten Noten des Hochzeitsmarsches von Mendelssohn.
Die Kirche ist gerammelt voll, man glaubt es kaum: Einwohner von Gesturi, Verwandte und Freunde, die aus Rom, den Abruzzen und sogar aus Kalifornien angereist sind. Maurizio steht schon wartend vor dem Altar, von Kopf bis Fuß gegelt und gelackt. Ich hatte mir so schöne Streiche ausgedacht, die ich ihm spielen wollte. Zum Beispiel wollte ich mir gestern Abend einen seiner Schuhe für die Trauung besorgen und mit einem weißen Stift auf die Sohle »Holt mich hier raus!« schreiben. Im letzten Moment hatte ich mir noch überlegt, mich als Braut zu verkleiden, oder dass er nach der Kirche statt seines traccas nur noch unsere kleine Ape vorfinden sollte. Doch jetzt muss ich mich beeilen. Wegen der vielen Leute ist so gut wie kein Durchkommen. Ich kann gerade einmal Giulia ausmachen, die am Arm ihres Vaters sichtlich angespannt langsam vorwärtsschreitet. Die Ärmste, um in dieses alte Spitzenkorsett zu passen, muss sie wohl seit gestern Nachmittag um drei den Atem angehalten haben! Genau wie Maurizio hat sie sich ziemlich herausgeputzt, mit dickem Make-up und kunstvoller Haarpracht à la Lady Gaga. Bosheit mal beiseite, sie ist wunderschön, auch wenn ich ein natürliches Aussehen bevorzuge. Was Maurizio betrifft, so trägt er ein weißes Hemd und darüber ein Leibchen aus scharlachroter grober Wolle, dazu lange weiße Strümpfe. Bis hierhin ist alles noch normal, schauten sie nicht unter einem in der Taille mit einem Ledergürtel zusammengehaltenen kurzen Rock hervor. Was tut man nicht alles aus Liebe! Giulias Vater ist vor Rührung ganz verwirrt, seit sie die Kirche betreten haben. Er konnte sich zunächst nicht mal entscheiden, ob er links oder rechts von der Braut gehen sollte, und beinahe wären die beiden im Gänsemarsch hintereinander hergelaufen wie bei der Silvesterpolonaise.