Der Mann mit dem Traktor
Jutta
Als ich mit zwanzig Jahren auf die Schauspielschule kam, stellte meine Phonetiklehrerin fest, dass ich mit einem kraftvollen Organ ausgestattet bin und es für mich nie schwierig werden dürfte, große Staatstheater zu füllen. Ein Problem jedoch, sagte sie, könne meine starke Persönlichkeit werden. Ich zeige zu viele Emotionen, wo jedoch bliebe der Kopf? Sie riet mir daher, eine Atemtherapeutin aus der renommierten Meh-Schule aufzusuchen, an der unter anderem C. G. Jung gelehrt hat. Sie sollte mir helfen, Bauch und Geist in Einklang zu bringen. Sechs Jahre habe ich diese wunderbare Atemtherapie gelernt. Vor jeder Premiere, wenn mich mein Lampenfieber zu zerreißen drohte, dachte ich an den Kernsatz, den mir meine Ida Hengst eingetrichtert hat: »Wenn du aufgeregt bist und nicht mehr weiterweißt, setz dich auf deinen Hintern und atme ein.« So, und genau das mache ich jetzt auch! Ich atme tief ein, schließe meine Augen, und nach ein paar Atemzügen spüre ich, wie meine Mundwinkel nach oben wandern und sich eine zarte, noch im Anfangsstadium befindliche Heiterkeit einstellt. Mein Körper wird leicht.
»Ist das Ihr Akku?« Ich öffne meine Augen und sehe in das strahlende Gesicht von »Rastazöpfchen«, meinem Engel.
»Ja, danke, großartig, ich hab schon den ganzen Boden danach abgesucht.«
»Ich glaube, der ist in dem Tumult in die Ecke gekickt worden. Wollen Sie auch Ihren zweiten Schuh wiederhaben?«
Ich könnte sie knutschen.
»Danke, danke«, gebe ich liebevoll zurück. Wir müssen beide lachen.
»Was machen wir jetzt bloß hier? Wartest du auch auf deinen Koffer?«, frage ich sie. Ja, ihr Rucksack sei anscheinend noch im Flieger, und so viel sie vorhin verstanden hätte, käme wohl heute bei dem Streik kein einziges Gepäckstück mehr aufs Rollband, denn die Bauern hätten auch die Gepäckhalle besetzt. Ich mache derweil mein Handy wieder funktionstüchtig. Eigentlich will ich das gar nicht. Warum muss man immer und überall erreichbar sein?, denkt mein Dinosaurierhirn. Ich frage das Mädchen, was es auf der Insel macht und warum es so gut Italienisch spricht? Ich kann es nach acht Jahren deutsch-italienischem Bündnis nicht halb so gut! Sie erzählt mir, dass sie Archäologie in Perugia studiert und sich hier Ausgrabungen ansehen will. Freunde hätten ihr ein Sommerhäuschen angeboten, und es gebe einen Bus dorthin.
Ganz langsam löst sich die Menschentraube auf. Offenbar hat es sich herumgesprochen, dass die Koffer heute nicht mehr zu erwarten sind und das Flughafengebäude für die Passagiere der nächsten Maschine frei gemacht werden muss. Ich bewege mich Richtung Ausgang. Vielleicht holt Bruno ja schon das Auto?
Nachdem sich die Menge aufgelöst hat, packen die streikenden Schafhirten ihre Brote aus und stärken sich für das nächste Flugzeug. Ich will hier weg. Draußen herrscht ein Gewühl aus Bauern, Ziegen, Eseln und Schafen.
Endlich! Mein Telefon klingelt! Jetzt bin ich aber gespannt! Doch Bruno lässt eine Tirade los, wieso ich die ganze Zeit nicht ans Telefon gehe und wo ich überhaupt stecke. Ich komme überhaupt nicht dazwischen. Wahrnehmung und Erwartungshaltung!
»Wo bist du denn mit dem Auto?«, brülle ich in mein Handy.
»Nix Auto«, brüllt er zurück, »versuch zum Parkplatz zu kommen, da warte ich auf dich!«
»Ich sehe überhaupt nichts.« Er hat längst aufgelegt. Das ist ja mal wieder typisch, er hätte mich ja auch abholen können! Lächeln, Jutta, und tief einatmen, alles wird gut …
Also gehe ich mal nach links, vielleicht entdecke ich ja irgendwo ein Schild! Tatsächlich, nur leider ist der Parkplatz auf der anderen Seite! Also wieder zurück. Unter vielen Entschuldigungen drängle ich mich zwischen den Schäfchen hindurch, die ich ja eigentlich ganz entzückend finde, zumal sie scheu sind und ausweichen; Ziegenböcke mit ihren Hörnern sind hingegen nicht so mein Fall. Sie haaren furchtbar, und ganz sauber sind sie auch nicht.
Nach kürzester Zeit ist mir klar: Mantel und Rock waren mal cremefarben. Ich muss aufpassen, dass mich so ein Hörnchen nicht auch noch aufspießt und mir ein Loch reinreißt. Da merke ich, dass irgendetwas an meinem Mantel zupft. Erbost zerre ich einer fetten Ziege den Zipfel meines wunderschönen Sommermantels aus dem Maul.
Plötzlich höre ich einen ohrenbetäubenden Pfiff. Den lautesten meines Lebens! Und nachdem ich mich von dem Schreck erholt habe, entdecke ich meinen Liebsten!
»Bruno, Bruno, hier bin ich!«
»Mäh«, antwortet das Schaf neben mir, ich kämpfe mich weiter zu meinem Lebenspartner durch.
»Bruuuuno!«
Endlich blickt er in meine Richtung. »Ja, hier kommst du gut durch! Das ist übrigens Claudio«, stellt er mich einem verdächtig nach Ziege riechenden Mann vor, dem ich vor Erleichterung beinahe um den Hals falle. Claudio ist ein heiterer, zufriedener Zeitgenosse, dessen Lippen an einer halb aufgerauchten krummen Zigarre hängen, die an seinem Schnurrbart festgewachsen zu sein scheint. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Viel Sonne und Luft haben sein Gesicht gegerbt. Strahlend blau blitzen seine Augen unter buschigen Augenbrauen hervor.
»Also, hör zu«, sagt Bruno. »Es sitzt zwar jemand am Schalter von Rent-a-Car, aber die Autos auf dem Parkplatz sind von streikenden Bauern mit ihren Viechern umzingelt, und man kann unmöglich rausfahren. Ansonsten gibt es keine andere Möglichkeit, an ein Auto zu kommen, die nächste Autovermietung ist circa sechzig Kilometer von hier entfernt an der Küste.«
»Na gut, dann fahren wir halt mit dem Bus nach Cagliari rein und nehmen uns dort ein Auto«, schlage ich vor. Bruno jedoch kann es nicht leiden, wenn jemand seine Pläne durchkreuzen möchte.
»Amore, wir kriegen kein Auto«, seufzt er. Claudio habe freundlicherweise angeboten, uns zu sich nach Hause mitzunehmen. Sein Bruder lebe nur wenige Kilometer von ihm entfernt und habe ein Auto, mit dem könne er uns nach Gesturi zu Maurizio und Giulia bringen. Ich solle ihm vertrauen, er wisse schon, was zu tun sei, schließlich sei das hier seine Heimat und nicht meine.
Rums, da hab ich ja mal wieder was um die Ohren geknallt bekommen! Ich frage mich, mit welchem Gefährt uns Claudio mitnehmen will, bin aber lieber still. Nach einem Mercedes Cabrio sieht er nicht gerade aus.
Ob ich denn inzwischen am Lost-and-found-Schalter gewesen sei und unser Gepäck als vermisst gemeldet habe, fragt mich Bruno.
»Nein, hab ich nicht, es ist ja deine Heimat und nicht meine«, gifte ich zurück.
»Dann mach ich das jetzt, und du bleibst hier bei Claudio«, sagt er und verschwindet.
O Mann, was rede ich denn jetzt mit diesem Schafhirten?, frage ich mich und lächle ihn erst mal an. Er nickt kurz zurück und wendet sich seinem sardischen Gegenüber zu. Laute, wie mit der Zunge geschnalzt, dringen zwischen Schnauzer und Zigarre hervor, ein Strom von Konsonanten und Vokalen, der sich mit dem Singsang des männlichen Gegenübers vermischt. Sie scheinen Wichtiges zu besprechen, denn immer wieder nickt einer und tut seine Zustimmung kund. Irgendwann murmelt Claudio etwas Unverständliches und zieht mich weg. Was soll ich tun, mitgehen oder hier auf Bruno warten, der mich dann wieder anschnauzt, warum ich mich nicht an die Vereinbarung halte? Ja, wie denn, wenn ich nicht kapiere, was man mit mir vorhat? Ich lasse mich jetzt einfach treiben. Bruno hat völlig recht, ich muss ihm einfach vertrauen.
Als ob ich’s nicht fast geahnt hätte, öffnet Claudio nach einer Weile die Klappe seines Anhängers. Er hievt seine Ziegen darauf, klettert hinterher, nimmt eine Obstkiste, staubt sie kurz mit der Handfläche ab und legt einen Kartoffelsack drüber. Dann reicht er mir seine schmutzige Hand. Oben angekommen, bedeutet er mir, mich auf die von ihm so liebevoll hergerichtete Sitzgelegenheit zu setzen. Jetzt ist das cremefarbene Röckchen restlos hinüber! Mein Hut ist verrutscht! Das Stück Mantel, das ich aus dem Ziegenmaul gerettet habe, klebt eklig, und meine Absätze sind kotverschmiert. ICH KÖNNTE HEULEN!!!