Claudio hüpft vom Anhänger und schließt die Klappe hinter mir, damit ich auch ja nicht fliehen kann! Dann geht er weg. Warum lassen mich heute eigentlich alle allein? Ich blicke in die Augen der mir freundlich zugewandten Mutterziege. Sie scheint den Tränen nahe zu sein. Sicher findet sie das hier ebenfalls alles gar nicht komisch. Kein Grashalm weit und breit, nichts zu trinken und dann dieser Lärm. Sanft streichle ich ihren Kopf, was sie damit quittiert, dass sie den Ärmel meines Mantels blitzartig in ihr Maul nimmt.
»Aus, aus«, schreie ich sie an, meine Sympathie für sie ist schlagartig verflogen.
So sitze ich nun mutterseelenallein auf diesem Anhänger. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in so eine Situation geraten zu sein. Wenn es nicht zum Heulen wäre, so wär’s schon wieder komisch.
Nach einer Ewigkeit tauchen Bruno und Claudio auf.
»Tutto bene, amore?«, ruft er mir entgegen.
»Molto bene!«, sage ich voller Sarkasmus.
Zufrieden hüpft er vorne ins Führerhäuschen. Ich bin sprachlos! Nicht mal gefragt hat er mich, ob ich nicht lieber vorne sitzen will. So ein italienischer Obermacho, das ist ja das Letzte!
»Amore«, ruft er mir über die Schulter zu, als hätte er meine Gedanken erraten, »weißt du, es ist besser, ich sitze hier vorne, dann kann ich mit Claudio alles besprechen, du verstehst ihn ja nicht. Und außerdem bist du ja viel tierlieber als ich.« Er zwinkert mir zu, der Schuft. Ich schwöre Rache! Dann startet Claudio mit viel Getöse den Motor, und wir rattern los. In meiner Handtasche piepst es, mein Akku gibt seinen Geist auf, das Ladegerät ist im Koffer.
Claudio und der Pfiff alla pecorara
Bruno
Er heißt Claudio, ist fünfundfünfzig und einer der Viehzüchter von der Bewegung Sardischer Hirten. Er lebt in Monastir, Provinz Cagliari, zusammen mit seiner Frau Anna und fünfunddreißig Schafen, fünf Ziegen, acht Wildschweinen, drei Mufflonschafen und zwei Eseln. Er steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um diese ansehnliche Herde auf die Weide zu führen und den Schafstall auszumisten. Vor halb acht Uhr abends betritt er nie sein Wohnzimmer. Freie Tage gibt es für ihn nicht, denn Tiere müssen bekanntlich immer fressen. Eigentlich missfällt ihm das nicht, er liebt seine Tiere, sie sichern ihm sein Überleben und sein Auskommen. Anna bewundert ihren Mann, obwohl er nach Schafstall stinkt und nie merkt, wenn sie mal eine andere Frisur hat oder ein neues Kleid trägt.
»Was weiß ich denn schon von Mode? Ich kenne gerade mal die Wolle, die ich den Schafen abschere«, sagt er.
Claudio und Anna leben in einer Behausung ohne Heizung und Telefon. Mehr können sie sich nicht leisten.
»Der Milchmarkt ist furchtbar geworden. Vor fünfundzwanzig Jahren bekamen wir für einen Liter Milch 1320 Lire. Heute gibt man uns gerade mal 55 oder 60 Cent dafür, das sind 1100 Lire. Und wie viel teurer ist das Leben in den letzten fünfundzwanzig Jahren geworden? Alles kostet das Dreifache, und unsere Arbeit ist nur noch ein Viertel wert, das ist schlimm. Und dann sollen wir auf die Zukunft vertrauen. Welche Zukunft?«
Immer wieder verfällt er in tiefstes Sardisch.
»Was soll ich denn machen, wenn ich den Preis nicht akzeptiere, den die Käufer uns aufzwingen? Die fahren nach Rumänien, kaufen die Milch dort und schlagen dann hier zweihundert Prozent drauf! Da muss ich ja verhungern! Ich bin heute Morgen um vier Uhr aufgestanden, um hierherzukommen und zu protestieren. Ich verlange doch nur ein bisschen Respekt vor meiner Arbeit und ein paar Kleider für meine Frau. Ist das denn zu viel verlangt?«
So langsam verstehe ich die Hintergründe dieser seltsamen Blockade. Offenbar lassen sich Milcherzeuger in anderen Teilen Europas leichter unter Druck setzen, und deshalb wird dort eingekauft. Die weiterverarbeitenden Betriebe haben die neuen Verträge noch nicht unterschrieben, doch die Hirten können nicht länger warten, denn inzwischen reift der Käse, und dabei verliert er an Gewicht.
»Unser Preis ist fair. Und fair ist ein Preis nur dann, wenn er den Verbrauchern ein gutes, reines Produkt garantiert. Das muss für alle Bauern und Hirten auf der ganzen Welt gelten.«
Man sagt den Sarden ja nach, sie seien stur bis zur Starrköpfigkeit. Das stimmt. Aber damit liegen sie absolut innerhalb der landesweiten Norm: Sie sind bestimmt sturer als wir aus den Abruzzen, aber bei weitem nicht so wie die Menschen aus der Lombardei. Sarden gelten als rachsüchtig. Ich würde sagen, sie wollen weniger Rache als ihre Rechte. Zumindest Claudio gehört zu dieser Sorte, und wenn er heute nicht hier wäre, um die ihm zustehenden Rechte einzufordern, wäre er kein Sarde.
Gastfreundschaft sagt man den Sarden ebenfalls nach. Das stimmt hundertprozentig.
Denn schon nach etwa zwanzig Minuten bietet mir Claudio an, bei ihm zu Abend zu essen und zu übernachten. Die Straßen nach Cagliari seien alle gesperrt, sagt er, und vor 21 Uhr werde sich daran auch nichts ändern. Mit seinem Traktor könnten wir auf einem anderen Weg in einer knappen Stunde sein Heim erreichen. Und sollte morgen die Blockade fortgesetzt werden, so ließe sich dann bestimmt besser eine Mitfahrgelegenheit nach Gesturi organisieren.
»Das ist sehr freundlich, Claudio«, bedanke ich mich, »aber ich kann doch nicht ohne meine Jutta weg!«
Da die Halle überfüllt ist und der Lärmpegel ständig weiter anschwillt, reden auch wir immer lauter.
»Wer ist Jutta?«, fragt Claudio.
»Meine Lebensgefährtin aus Deutschland … Sie müsste schon heute Vormittag mit dem Flugzeug aus München gelandet sein. Wir hatten uns hier in der Halle verabredet. Aber wir haben uns noch nicht gefunden.«
»Hast du es schon mal mit Pfeifen probiert?«
Er meint den berühmten Hirtenpfiff, bei dem man mit gespitzten Lippen einen so gellenden Ton erzeugen kann, dass einem davon die Ohren klingeln. Der Pfiff alla pecorara, nach Hirtenart, erklärt mir Claudio, ist ein revolutionärer Pfiff. Damit kann man sich über weite Entfernungen verständigen und jedermanns Aufmerksamkeit erregen.
Dann folgt Claudios Auftritt, weit besser als Trapattoni, als der seine Bayern zusammenstauchte. Mit einem unglaublichen Pfiff bringt er alle Anwesenden einschließlich der armen blökenden Schafe zum Schweigen.
»FIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII …………«
Stille.
»Jetzt hat sie uns bestimmt gehört.«
In der Halle ist es plötzlich ruhig geworden. Alle Augen sind auf uns gerichtet. Und in der allgemeinen Stille hört man leise, aber deutlich vernehmbar:
»Ich glaub, ich spinn!«
Da steht sie und sieht mich mit großen Augen an!
»Was kann ich dafür, amore? Wer konnte so ein Chaos vorausahnen! Reg dich nicht auf, du wirst sehen, alles kommt wieder in Ordnung. Das hier ist Claudio, er hat uns netterweise angeboten, uns auf seinem Traktor mitzunehmen. An unseren Mietwagen kommen wir nicht ran. Aber jetzt lass mich Maurizio anrufen, bevor es zu spät ist …«
»Sag mal – spinnst du?«
Die Vorstellung, vom Flughafen auf dem Traktor eines Unbekannten zu verschwinden, scheint sie ziemlich aufzuregen. Und wenn ich ihr jetzt noch erzähle, dass er uns sogar angeboten hat, bei ihm zu Hause zu übernachten … Ich halte mich lieber etwas zurück und spare mir die Einzelheiten für später auf. »Ciao, Maurizio, du bist es – endlich! Mein Akku ist gleich leer. Wir haben wegen des Streiks ein paar Probleme. Du hast davon gehört? Hör mal, heute Nacht werden wir woanders unterkommen. Aber morgen Nachmittag sind wir da …«
Die Wut der Demonstranten ist jetzt wieder aufgeflammt, und zwar noch heftiger als vorhin, die Traktoren auf der breiten Straße vor dem Parkhaus versperren weiter den Weg.