Выбрать главу

Es ist beinahe drei Uhr am Nachmittag, als wir die klapprige, laute Landmaschine mit Anhänger besteigen, auf deren Ladefläche Claudio einen hübschen Sitz für Jutta improvisiert hat. Ich setze mich vorne neben ihn. Wir sollen uns gut festhalten. Der Weg über diese Schotterstraße wird ein bisschen holprig wegen der vielen Schlaglöcher, die der Regen der vergangenen Tage verursacht hat. Doch Claudio versichert uns, es werde auf jeden Fall aufregend. Als wir die Hauptstraße am Flughafen verlassen und in den ersten Weg bergaufwärts einbiegen, haben Jutta und ich nur noch eine Sorge: wie wir den Zweigen und stachligen Ästen der Bäume ausweichen können. Jutta weist mich auf einen Abhang am Wegesrand hin, der im Nichts endet … Ich traue meinen Augen nicht. Mein Adrenalinpegel steigt rasant. Wo sind wir bloß gelandet?

»Haltet euch gut fest!«, ruft Claudio.

Ein abruptes Einschlagen nach links, und wir haben die Kurve hinter uns gelassen. Vor uns öffnet sich eine faszinierende, ursprüngliche, beinahe archaische Landschaft. Claudio erklärt uns, dass es auf der gesamten Insel keine Autobahnen gibt und auf der Staatsstraße 131 wegen Bauarbeiten nur Chaos herrscht. Daher muss man, wenn man dem Verkehr ausweichen will, diese Schotterstraße hoch.

Wir fahren durch die Dörfer Truncu, Case Marini, San Sperate und dann weiter in Richtung Monastir. Wir sind mitten im Campidano, der einzigen Ebene auf Sardinien, wo es, Gott sei Dank, nur wenige Kurven gibt und die Landschaft einen für alles entschädigt. Jetzt ist alles um uns herum sattgrün. Fast wie in Irland!

Jutta sieht ziemlich erledigt aus, und so lese ich ihr etwas aus unserem Reiseführer vor, um sie auf andere Gedanken zu bringen: »Wenn Insel nicht nur ein Stück Land bezeichnet, das von allen Seiten von Wasser umgeben ist, sondern auch so etwas wie eine Erdscholle, die deutlich vom Festland entfernt ist, ist Sardinien unter den größeren die einzig wahre Insel Italiens.«

»Etwas lauter, Schatz!«

»Ihre Küsten sind einhundertachtzig Kilometer von Afrika entfernt, einhundertneunzig von den Badeorten des Argentario der Toskana, zweihundertdreißig Kilometer von Rom, zweihundertachtzig von Sizilien, dreihundertdreißig von den Balearen, dreihundertfünfundsechzig von Marseille, achthundertzwanzig von München und eintausendsechshundertfünfzig Kilometer von Berlin …«

»Du hast noch nicht die Kilometer gezählt, die wir auf diesem verdammten Traktor zurücklegen müssen, und wie viele uns von deinem Cousin dritten Grades trennen, und nur seinetwegen bin ich jetzt hier! Da hätte ich doch lieber eine Woche an der Costa Smeralda verbracht, als hier auf einem Viehwagen durch die Gegend zu tuckern, noch dazu mit einem Hirten, der gegen den Wind nach Schaf stinkt.«

»Jutta, bitte, er kann dich hören … Außerdem sollten wir ihm dankbar sein. Wäre er nicht gewesen, säßen wir jetzt noch auf dem Flughafen fest!«

»Seit wann versteht dein Freund hier denn Deutsch? Sag ihm lieber mal, er soll nicht so heftig in die Schlaglöcher fahren.«

»Psst – er sieht dir an, dass du wütend bist. Außerdem gehört nicht viel dazu, um mitzubekommen, dass du ihn nicht magst …«

»Hast du wenigstens die Nummer von der Gepäckstelle dabei? Verlier bloß nicht die Abschnitte der Tickets, sonst bekommst du die Koffer nie zurück.«

»Keine Angst, ich habe auch Maurizios Adresse und Telefonnummer hinterlassen, falls wir sie morgen nicht abholen können …«

»Waaaas?«

»Reg dich nicht auf, das wird nicht passieren. Aber sollte sich der Streik hinziehen, wissen sie wenigstens, wo sie sie hinschicken sollen.«

»Kruzitürken!«

So geht es während der ganzen Fahrt.

Claudio bleibt immer fröhlich und liebenswürdig, er ist ein Bauer mit sympathischem, offenem Gesicht und schwieligen Händen. Der klapprige Traktor, ein alter Landini aus den siebziger Jahren, ist Zeuge einer längst vergangenen Zeit. Ein bisschen rückständig, aber sehr ähnlich denen, die ich aus meiner Kindheit in den Abruzzen kenne.

Wir zuckeln weiter auf dem alten Landini und werden ordentlich durchgeschüttelt. Da der Traktor nur mit zwanzig Stundenkilometern fährt, bleibt uns Zeit, die Menschen unterwegs zu beobachten und selbst die kleinsten Veränderungen auf ihren Gesichtern wahrzunehmen: zum Beispiel die erschöpft, aber zufrieden wirkende Bauersfrau, die mit einem Sträußchen Rosmarin in der Hand auf dem Heimweg ist und den mürrischen Hirten grüßt, dessen Esel zwei Körbe mit Käse und geräucherter Wurst auf dem Rücken trägt. Jutta ist ganz hingerissen, als sie eine Wiese voller blühender lilafarbener Kardendisteln ausmacht.

Nur Gott allein weiß, wie Claudio ihre Gedanken gelesen hat, jedenfalls steigt er geräuschvoll in die Bremsen, der Traktor macht einen Riesensatz, Jutta plumpst heftig mit dem Hintern auf die Ladefläche des Anhängers, und Claudio springt aus der Kabine des Traktors.

»Nehmen Sie, Jutta, unsere sardischen Karden bringen Glück.« Da sie ihn verdutzt anschaut, schalte ich mich ein und übersetze Claudios Rede: »Unserer Überlieferung nach haben die jungen Mädchen sie gesammelt, in ein Glas Wasser gestellt und eine ganze Nacht lang auf dem Fensterbrett stehen lassen. Je nachdem, wie die Distel am nächsten Morgen aussah, las man daraus das eigene Schicksal. War sie wieder aufgeblüht, bedeutete es, dass das Mädchen einen reichen Ehemann finden würde, wenn nicht, würde ihr Mann arm sein.«

»Danke, Claudio, man sieht schon, dass meine Blüte verdorrt war.«

Das übersetze ich lieber nicht, was Jutta gleich mit einem zornigen Blick quittiert. Claudio schwingt sich unterdessen wieder hinters Lenkrad und lässt den Motor an. Die Natur genießend, legen wir den restlichen Weg bis zu Claudios Behausung zurück.

»Hier hinauf schaffen es sogar die Ziegen nur mit Mühe«, sagt Claudio. »Bei Regen muss man reiten, denn die Straße ist schon dreimal abgesackt. Nehmen Sie, das ist eine Petroleumlampe für die Nacht. Wir können uns nicht einmal eine Melkmaschine leisten. Wir haben weder das Geld, um sie zu bezahlen, noch den Strom, um sie zu betreiben. Es gibt schon Leute hier, die ihre Ziegen maschinell melken lassen und abends mit dem Geländewagen nach Hause kommen, in Kaschmirpyjamas schlafen und Plasmafernseher haben. Aber Anna und ich, wir sind arme Leute. Strom gibt es bei uns nur im Haus. Ja, meine Lieben, Sardinien ist nicht nur die Costa Smeralda.«

Im Steinhaufen

Jutta

»Mein Akku ist leer«, rufe ich Bruno zu. »Hast du eigentlich deinen Cousin erreicht? Es ist schon Nachmittag, du wolltest doch mit ihm zum Pfarrer gehen?!«

Eigentlich kann es mir ja egal sein. Mein Problem ist eher, wie ich mit den blauen Flecken, die ich mir hier auf meiner Kiste auf- und abhüpfend am Po zuziehe, die stundenlange Trauungszeremonie überstehen soll. Die Bänke sind mit Sicherheit katholisch karg und hart.

Ob es etwas ausmacht, wenn Bruno nicht mit zum Pfarrer geht? Notfalls kann er ja noch morgen früh zu dem Geistlichen gehen. Die Hochzeit ist ja erst am Sonntag. Mir ist es eh ein Rätsel, was wir so lange in Gesturi vorbereiten sollen. Aber irgendwie freue ich mich darauf. Wenn wir erst mal da sind, wird es bestimmt wunderschön. Hoffentlich passt mir mein Cocktailkleid dann noch. Zweimal am Tag Pasta und Fleisch, Käse und dolci schaffe ich nicht. Zumal Italiener ihre üppigen Mahlzeiten nie vor neun Uhr abends beginnen. Ich schwelge in Gedanken an eine Karaffe kalten Landwein, dazu Ziegenkäse mit sardischem Brot, Oliven und tausend lustige Geschichten über das Brautpaar.

»Hast du Hunger, amore?«, fragt mich Bruno. Er kann wirklich Gedanken lesen.

»Und wie!«, antworte ich.

»Ich auch«, sagt Bruno. »Claudio hat uns gerade eingeladen, bei ihnen eine Kleinigkeit zu essen. Wenn wir warten müssen, können wir auch gleich was essen. Jetzt ist es auch schon egal, wann wir in Gesturi auftauchen, die Alten schlafen nachmittags, und Maurizio ist beim Pfarrer. Ist das okay für dich?«