»Das hättest du auch früher sagen können«, murrte Doniphan. »Du dienst uns hier als Führer, und wenn es eine Verzögerung gibt, bist du allein verantwortlich.«
»Ja, schon recht! — Wo ist denn Service eigentlich?«
»Service!!... Service!!«
Der Junge war nicht mehr da; nachdem er sich mit Phann entfernt hatte, war er hinter einem Felsvorsprung des Steilufers verschwunden. Da bellte plötzlich Phann, dazwischen hörte man die Rufe von Service.
Briant, Doniphan und Wilcox rannten schnell zurück. Durch immer wieder einsickerndes Wasser war die Kalkmasse an der Wand rissig geworden und hatte sich zu einem gefährlichen Halbtrichter umgebildet. Service hing am Rand einer kegelförmigen Schlucht und getraute sich keine Bewegung zu machen, aus Furcht abzustürzen. Doniphan schwang sich zuerst auf die umliegenden Blöcke.
»Warte!« rief Briant.
Doch Doniphan reagierte nicht darauf, ihn spornte seine Eigenliebe an, schon bald hatte er die Hälfte der Schlucht erklettert. Seine Kameraden folgten ihm, mieden aber die Stellen unter ihm, um nicht von abbröckelndem Gestein erschlagen zu werden; dadurch kamen sie natürlich viel langsamer voran als der oben kletternde Doniphan. Er nahm Service an der Hand und kletterte mit ihm schließlich ganz nach oben. Die anderen kamen nach. Doniphan hatte schon sein Fernrohr aus dem Etui gezogen und richtete es nach der Oberfläche der Waldungen, die sich im Osten hinziehen. Hier bot sich ihm das gleiche Rundgemälde von Himmel und Wald, das auch schon Briant von dieser Höhe aus beobachtete; allerdings überragte diese Stelle das Steilufer um einiges. »Nun«, fragte Wilcox, »siehst du was?«
»Nichts, überhaupt nichts!«
»Laß mich mal durchschauen!«
Doniphan reichte Wilcox das Fernrohr, in seinem Gesicht spiegelte sich deutlich die Befriedigung gegenüber Briant. »Nichts, keine Wasserlinie zu sehen«, bestätigte Wilcox Doniphans Behauptung.
»Briant«, heuchelte Doniphan, »sieh doch mal hindurch, du wirst deinen Irrtum dann erkennen . . .«
»Umsonst, mein Lieber, ich habe mich nicht getäuscht, ich bin ganz sicher.«
»Ein starkes Stück!«
»Ihr könnt beide nichts erkennen, weil unser Platz niedriger ist als das Vorgebirge, dadurch verkürzt sich die Sehweite erheblich. Stünden wir dort, wo ich neulich stand, würdet ihr die bläuliche Wasserlinie unschwer erkennen.«
»Leicht gesagt!«
»Und ebenso leicht bewiesen«, ergänzte Briant gelassen. »Gehen wir über die Hochfläche des Steilufers und anschließend durch die Wälder, dann erreichen wir die Stelle ...«
»Das könnte uns sehr weit abführen. Wer weiß, ob sich die Mühe überhaupt lohnt?« sagte Doniphan.
»Dann bleib eben hier«, erwiderte Briant ruhig, denn er wollte mit Doniphan, Gordon zuliebe, keinen Streit anfangen, »ich gehe mit Service allein weiter.«
»Kommt nicht in Frage«, warf da Wilcox ein.
»Doniphan, auf, wir gehen mit.«
»Aber erst nach dem Frühstück«, schlug Service vor. Die Knaben stärkten sich mit einem Imbiß und zogen nach einer halben Stunde weiter.
Zuerst ging es schnell vorwärts; der Boden zeigte nur kleine steinige, mit Moos und Flechten überdeckte Erhebungen, hie und da wuchsen baumartige Lycopoden, etwas Heidekraut, Berberitzensträucher, Stechpalmen mit stacheligen fleischigen Blättern. Im Wald selbst war das Marschieren wegen der üppig wuchernden Pflanzen und des hohen Grases weit beschwerlicher; umgestürzte Bäume lagen im Weg, manchmal war das Unterholz so dicht, daß man sich mit der Axt den Weg freischlagen mußte. Es schien wirklich so, als sei hier noch keine Menschenseele gewesen, nur ab und zu huschten einige Tiere vorüber, ohne daß man bei ihrer Geschwindigkeit hätte sagen können, um welche Gattung es sich handelte. Doniphan zuckte jedesmal die Hand am Revolver, aber er blieb dann doch vernünftig, denn kein Schuß sollte ihre Gegenwart in diesem kleinen Dschungel verraten. Uferschwalben, Rebhühner, sogenannte Tinamus, Wildgänse und Kraniche gab es hier in rauhen Mengen; für den Fall eines längeren Aufenthaltes in dieser Gegend würde es also an Nahrungsmitteln aus der Luft nicht fehlen.
Es war 14 Uhr, als die Kinder an einer ganz schmalen, von einem seichten Rio durchflossenen Lichtung anhielten. Über ein schwärzliches Felsenbett strömte vollkommen klares Wasser, die Quelle dieses Creek konnte demnach nicht weit sein. An einer Stelle des Wasserlaufs schienen flache Steine so angeordnet zu sein, daß sie den Übergang erleichterten.
»Das sieht ja merkwürdig aus«, sagte Doniphan. »Man könnte es für eine Brücke halten«, überlegte Service, der auch gleich versuchte, auf die Steine zu treten.
»Halt!« rief da Briant. »Wir müssen die Sache erst genau untersuchen.«
»Der Zufall kann die Steine niemals so exakt aneinandergesetzt haben«, sagte Wilcox.
»Nein, mir scheint, da hat jemand einen gangbaren Weg über den Fluß bauen wollen.«
Man prüfte nun sorgfältig diesen Steg aus Steinplatten. War er von einem Menschen errichtet worden? Dann war diese Gegend also doch bewohnt? Aber es war natürlich genauso möglich, daß die Strömung zur Zeit des Hochwassers die Platten hier nach und nach angeschwemmt hatte. Dafür sprach auch, daß man weder links noch rechts des Rio irgendwelche Spuren von Menschen entdecken konnte. Der Creek strömte nach Nordosten, also nach der der Bai entgegengesetzten Seite. Mündete er in jenes Meer, das Briant vom Gipfel des Vorgebirges aus gesehen haben wollte?
»Vielleicht ist dieser Rio nur ein Nebenarm von einem größeren Fluß, der nach Westen fließt«, sagte Doniphan. »Das werden wir bald sehen«, antwortete Briant. »Solange er allerdings direkt nach Osten verläuft, sollten wir ihm nachgehen.«
Die 4 Kinder brachen wieder auf, nachdem sie den Creek mit Hilfe der angesammelten Steinplatten überschritten hatten. Machte der Fluß zuweilen auch größere Windungen, so zeigte der Kompaß doch eindeutig Richtung Osten. Die Mündung mußte von hier aus jedoch noch ziemlich weit entfernt sein, denn weder die Strömung noch die Breite des Flußbettes nahmen zu. Gegen 17.30 Uhr mußten Briant und die anderen zu ihrem Leidwesen erkennen, daß der Lauf des Creek sich nach Norden richtete; wollte man ihm weiterfolgen, so würden sie in eine ihrem Ziel nicht entsprechende Richtung geführt werden. Man beschloß, abzubiegen und durch die dicht stehenden Birken und Buchen direkt nach Osten zu wandern. Aber dieser Weg war schwierig, oft überragte das wuchernde Gras ihre Köpfe, man mußte immer wieder rufen und pfeifen, um beieinander zu bleiben. Da nach eintägiger Wanderung noch nichts das vermutete Meer verriet, wurde auch Briant langsam ungeduldig. War er doch das Opfer einer Spiegelung gewesen?
»Nein, das ist nicht möglich, ich habe mich nicht getäuscht, ich habe deutlich Wasser wahrgenommen«, versuchte er sich zu beruhigen. Wie dem auch sei, jedenfalls war gegen 19 Uhr die Waldgrenze noch immer nicht erreicht, und die hereingebrochene Nacht machte ein Weitergehen unmöglich. Briant und Doniphan beschlossen anzuhalten, um die Nacht unter dem Schutz einiger Bäume zu verbringen. In Decken gehüllt, würde man von der Kälte nichts merken, außerdem konnte man auch ein Feuer machen.
»Wir machen besser kein Feuer«, überlegte Briant, »das könnte etwaige Eingeborene herbeilocken, und das könnte vielleicht unangenehm werden, man weiß ja nie!«
»Bleiben wir vorerst besser unentdeckt«, stimmte Doniphan zu.
Nach einem relativ reichlichen Abendessen legten sich die Kinder unter einem von Service entdeckten Dickicht schlafen. Ein-oder zweimal schlug Phann an, offenbar streiften irgendwelche Raubtiere durch den Wald, aber sie kamen nicht heran.
Gegen 7 Uhr erwachten Briant und seine Kameraden. Service kroch zuerst aus dem Dickicht hervor, plötzlich schrie er auf.
»Briant. . . Doniphan . . . Wilcox! Kommt schnell!«