»Was ist denn los?«
»Service erschreckt uns immer wieder durch sein Aufschreien«, sagte Wilcox.
»Schon gut«, antwortete Service, »aber schaut doch mal, wo wir heute nacht geschlafen haben!«
Das Dickicht war eine Blätterhütte, von den Indianern »Ajoupa« genannt; sie mußte schon vor langer Zeit errichtet worden sein, denn sie hielt nur noch zusammen, weil sie an einen Baum gelehnt war.
»Hier gibt es also doch Menschen?« fragte Doniphan und drehte sich im Kreise.
»Ja, oder es hat einmal solche gegeben«, antwortete Briant, »denn diese Hütte baut sich nicht von allein auf.«
»Dann erklärt sich auch der Plattenweg über den Rio«, sagte Wilcox.
»Wunderbar!« rief Service. »Hier leben also brave Leute, die uns sicher helfen werden, wenn wir sie erst einmal gefunden haben.«
Allerdings war es sehr ungewiß, ob es sich bei diesen Eingeborenen wirklich um brave Leute handeln würde; es mußten, falls diese Gegend zu einem Festland gehören sollte, Indianer sein, oder, im anderen Fall, Polynesier und möglicherweise sogar Kannibalen. Die Entdeckung des Plattenstegs und jetzt dieser Blätterhütte war deshalb nicht ausschließlich ein Anlaß zur Freude.
Briant wollte schon wieder aufbrechen, als Doniphan vorschlug, jene Hütte eingehender zu untersuchen; vielleicht fände man Gegenstände. Das auf dem Boden ausgestreute Laub wurde sorgfältig weggeräumt und in einer der Ecken fand Service tatsächlich eine Scherbe eines Tonnapfes oder einer Bauchflasche, das bewies aufs neue menschliche Arbeit, aber dieser Fund beantwortete keine der ungelösten Fragen. Man mußte den Marsch also fortsetzen.
Endlich, gegen 1 0 Uhr, hörte der Wald auf, vor den Kindern breitete sich eine mit Mastyxbüschen, Thymian und Heidekraut bedeckte Ebene aus. 1 km weiter im Osten lag die von Briant entdeckte Wasserlinie, die sich bis zum Horizont ausdehnte. Es war keinerlei Zweifel mehr möglich. Doniphan schwieg, man spürte, wie er sich ärgerte, daß sich Briant nicht getäuscht hatte. Im Norden bog die von den Sonnenstrahlen erleuchtete Küste etwas nach links ab. Jetzt war klar, daß es sich um eine Insel handelte. Was das im einzelnen bedeutete, wagte keines der 4 Kinder sich auszudenken. Auf der Wasserfläche konnte man kein weiteres Land erkennen, diese Insel mußte ganz verloren und allein im Stillen Ozean liegen. Nachdem Briant, Doniphan, Wilcox und Service die Strecke bis zum Strand hin zurückgelegt hatten, machten sie halt. Hier wollten sie ihr Frühstück zu sich nehmen und dann so schnell wie möglich wieder zu ihren Kameraden auf der Sloughi heimkehren. Während dieser Pause sprach keiner ein Wort. Endlich packte Doniphan Rucksack und Flinte und sagte nur: »Laßt uns aufbrechen!«
Sie schauten alle noch einmal über die endlose Weite des vor ihnen liegenden Meeres, das unermüdlich und schwer heranbrandete. Plötzlich sprang Phann zum Wasser hinunter.
»Phann! Phann!« rief Service.
In großen Sätzen sprang Phann weiter, ohne auf die Worte seines Herrn zu hören.
»Er trinkt. Schaut euch das an, er trinkt!« rief Doniphan. Er lief zum Wasser hinunter und kostete einige Tropfen. Es schmeckte nicht salzig.
»Dieses Meer ist nur ein Binnensee!«
8
Insel oder Festland?
Immer noch keine Antwort auf diese so lebenswichtige Frage! Das vermeintliche Meer hatte sich als Binnensee entpuppt, aber deshalb konnte es immer noch möglich sein, daß die Sloughi mit ihrer Besatzung auf einer Insel gestrandet war. Der See mußte eine beträchtliche Ausdehnung haben, und das wiederum ließ auf Festland schließen.
»Weiß der Geier. Also ist das doch Amerika?«
»Hab ich ja immer gesagt.«
»Aber das mit der Wasserlinie stimmte!«
»Aber ein Meer war es eben nicht, mein Lieber!«
Sowohl Briant wie Doniphan hatten recht, doch war damit nichts gewonnen. Die Frage blieb offen: Insel oder Festland? Man entschied sich nach reiflicher Überlegung für Festland, allerdings mit kleinen Vorbehalten; Genaues wußte niemand. Es mußten irgendwann weitere Reisen unternommen werden. Es war jetzt Anfang April, der Winter stand vor der Tür. Man durfte nicht mehr allzulange an der von Stürmen gepeitschten Bai bleiben, noch vor Ende dieses Monats mußten die Kinder die Sloughi verlassen haben. Aber wohin? War man den damit verbundenen Anstrengungen gewachsen? Und wie lange mußte man nach einer Grotte oder einer Hütte suchen? Obwohl sich Gordon Sorgen machen würde, beschlossen Briant und Doniphan, in der Umgebung des Sees nachzuforschen, ob sich hier eine Möglichkeit bot, die schlechte Jahreszeit geschützt und halbwegs komfortabel zu verbringen. Ihr Proviant würde noch 48 Stunden lang ausreichen, ein Wetterumschwung war nicht zu befürchten. Ohne Zweifel war dieser Teil des Landes bewohnt oder mindestens bewohnt worden; der durch den Creek gelegte Plattengang, die Ajoupa und die gefundene Tonscherbe deuteten darauf hin, daß hier Eingeborene oder — auch das war ja möglich — Schiffbrüchige gelebt hatten. Sollten Briant und Doniphan nach Süden oder nach Norden ziehen? Sie entschieden sich für die südliche Richtung, weil sie sich auf diesem Weg der Sloughi näherten. Später konnte man immer noch nach Norden marschieren. Gegen 10.30 Uhr machten sich die 4 Kinder auf den Weg. Phann sprang voraus und jagte ganze Scharen von Tinamus auf, die in den Mastyxbüschen und den Farnsträuchern nisteten. Doniphan war vernünftig genug, nicht zu schießen. Jetzt war höchste Vorsicht geboten, wollte man keinem Eingeborenen in die Hände laufen. Während des ganzen Tagesmarsches stießen die Kinder auf keine weitere Spur, nirgendwo entdeckten sie Rauchsäulen. Die Wasserfläche blieb auch weiterhin unübersehbar. Es schien allerdings, als umschlösse das Land im Süden den See. Auf Raubtiere oder Wiederkäuer stieß man nicht. Einige Male zeigten sich Vögel am Waldrand.
»Das sind Strauße!« rief Service.
»Aber dann sehr kleine Strauße«, sagte Doniphan. »Immerhin Strauße, und wenn wir auf dem Festland . . .«
»Zweifelst du noch, Briant?« fragte Doniphan.
»... so muß es Amerika sein, wo diese Tiere häufig vorkommen.«
Gegen 19 Uhr machten die Kinder Rast. Am nächsten Morgen wollte man, wenn nichts dazwischenkam, zur Sloughi-Bai, wie jener Uferteil nun getauft wurde, zurückkehren. Man konnte augenblicklich sowieso nicht weitergehen, weil im Süden ein Rio, der Abfluß des Sees, lag, den man wohl durchschwimmen mußte. Die Dunkelheit war schon zu groß, als daß man die Gegend noch heute abend hätte untersuchen können. Nach dem Abendessen waren alle müde, man legte sich unter freiem Himmel auf die mitgeführten Decken und schlief sofort ein. Am See wie am Strand war alles still. Manchmal heulten einige Schakale. Gegen 4 Uhr früh schlug plötzlich Phann an, er knurrte und schnupperte auf dem Boden, als suche er eine Fährte. Die Kinder aber erwachten erst gegen 7 Uhr. Sie waren sofort auf den Beinen und schauten sich um.
»Ein Glück, daß wir gestern abend vernünftig waren und nicht weitergegangen sind, wir wären in den schlimmsten Sumpf geraten.«
»Die Niederung erstreckt sich nach Süden zu, ohne daß man ihr Ende ausmachen könnte.«
»Hier wimmelt es ja von Enten und Bekassinen«, schwärmte Doniphan.
»Alles eßbares Wild! An dieser Stelle sollten wir hausen!«
Im Hintergrund erhob sich ein mächtiges Steilufer, das auf der anderen Seite schroff abzufallen schien. Von den beiden fast rechtwinklig zusammenstoßenden Schenkeln verlief der eine zum See hin, der andere bog mit einem kleinen Rio landeinwärts.
»Das ist interessant«, sagte Briant. »Ersteigen wir mal das Steilufer.«
Zuerst untersuchte man von hoch oben die Mündung des Flusses in den See.
»Seht doch!« rief Wilcox. »Hier ist wieder so eine ähnliche Steinanhäufung wie damals.«