»Die Stunde ... seht nach, welche Stunde sie anzeigt!« rief Service aufgeregt.
»Das bringt uns auch nicht viel weiter«, sagte Briant, »auf jeden Fall ist die Uhr schon mehrere Tage vor dem Tod dieses Unglücklichen stehengeblieben.«
Briant öffnete langsam den Uhrendeckel, dessen Gelenk stark oxydiert war.
»3.27 Uhr!«
»Paß auf«, sagte Doniphan, »jede Uhr trägt doch einen Namen, möglicherweise hilft uns das weiter.«
Nachdem er das Innere des Deckels abgesucht hatte, entdeckte er einige eingravierte Worte.
»Delpeuch/Saint Malo.«
»Ein Franzose, ein Landsmann von mir!« rief Briant erregt. Da entdeckte Doniphan auf dem Erdboden ein Schreibheft, dessen bereits vergilbte Blätter mit Bleistift beschriftet waren. Der größte Teil der Aufzeichnungen war zwar unleserlich, aber einige Worte, darunter der Name Frangois Baudoin, ließen sich dennoch entziffern. Das stimmte mit den in den Baum geschnitzten Initialen überein. Dieses Heft war also das Tagebuch seines Lebens, vor allem seines Lebens nach dem Schiffbruch, an dem niemand mehr zweifeln konnte, gewesen. Briant las noch die Worte »Duguay—Trouin«, was offenbar der Name des Schiffes war. Zu Beginn der Aufzeichnungen stand eine Jahreszahl, das Jahr des Schiffbruches. Es waren 53 Jahre vergangen, seit Frangois Baudoin an dieses Gestade geworfen wurde, und während der ganzen langen Zeit hatte er keine Hilfe vom Meer gefunden. Wenn es aber Frangois Baudoin nicht gelungen war, einen Ort dieses Festlandes zu erreichen, so mußte das irgendeinen schwerwiegenden Grund haben. Mehr als je zuvor trat jetzt den Kindern der Ernst ihrer aussichtslosen Lage vor Augen, es ließ sich nun nichts mehr beschönigen; würde auch ihr weiteres Leben nur ein Kampf mit dem Tod durch Entkräftung oder Wahnsinn sein? Noch ein weiterer Fund zeigte, wie schwer es sein mußte, dieses Land hier zu verlassen. Beim Durchblättern jenes Schreibheftes entdeckte Doniphan ein lose zusammengefaltetes Stück Papier. Es war eine Landkarte, gezeichnet mit einer Art Tinte, einer Mischung aus Ruß und Wasser.
»Eine Karte!«
»Sogar von Frangois Baudoin selbst angefertigt!«
»Wenn dem so ist, dann kann dieser Mann kein gewöhnlicher Matrose gewesen sein«, bemerkte Wilcox richtig.
»Wahrscheinlich war er einer der Offiziere der >Duguay-Trouin<.«
Es war eine Karte dieses Landes. Auf den ersten Blick erkannte man den Klippengürtel der Sloughi- Bai, den See und die 3 Inseln draußen im Meer. Das Land war ganz von Wasser umschlossen. Also kein Festland. Damit fielen alle Hoffnungen, alle Pläne, nach Osten zu wandern, um Hilfe zu holen, flach. Briant hatte gegen Doniphan doch recht behalten. Das Meer umrahmte von allen Seiten das Land, deshalb hatte auch Frangois Baudoin von hier nicht mehr weggekonnt. Die Kinder befanden sich auf einer Insel. Auf der Karte war zu erkennen, daß die allgemeinen Umrisse der Insel mit ziemlicher Genauigkeit wiedergegeben waren. Die Längenmaße konnten natürlich nur durch Schätzung gewonnen worden sein, vielleicht nach der zum Gehen benötigten Zeit und nicht durch die sonst übliche Triangulation. Das bewies ferner, daß der Tote die ganze Insel durchwandert haben mußte, was dann auch die Ajoupa und den Plattensteg über den Creek erklärte. Die Insel sah, laut Karte, folgendermaßen aus: Sie dehnte sich lang aus und ähnelte einem großen Schmetterling. Im mittleren Teil, zwischen der Sloughi-Bai und einer im Osten ziemlich tief einschneidenden anderen, verhältnismäßig schmalen Bai, bildete sie nach Süden hin noch eine dritte. Umrahmt von dichtem Wald dehnte sich der See in einer Länge von 27 km und in einer Breite von 7,5 km aus, und das erklärte auch, warum die 4 Kinder das nördliche, südliche und östliche Ufer nicht hatten erkennen können. Mehrere Rios flossen vom See ab, und derjenige, welcher direkt vor der Höhle vorbeifloß, mündete ganz nahe der Sloughi-Bai ins Meer. Die einzige bedeutende Höhe der Insel schien das Steilufer zu sein, das sich in schräger Richtung vom Vorgebirge im Norden der Bai bis zum rechten Rioufer hinzog. Den nördlichen Teil des Landes bezeichnete die Karte als dürr und sandig, während sich auf der anderen Rioseite ein ausgedehnter Sumpf befand, der sich nach Süden hin zuspitzte. Im Nordosten und Südosten lagen lange Dünenlinien.
Nach dem am Rande der Karte verzeichneten Maßstab betrug die größte Länge dieser Insel 75 km von Norden nach Süden und die größte Breite 37 km von Osten nach Westen. Die Küstenlinie mußte also ungefähr 225 km lang sein.
Aber an welcher Stelle des Stillen Ozeans lag die Insel? Auf jeden Fall waren die Kinder gezwungen, sich nach einer dauerhaften Bleibe auf der Insel umzusehen, mit provisorischen Lösungen durfte man sich nach diesen erregenden Entdeckungen nicht mehr abgeben. Da die Höhle eine verhältnismäßig sichere und zudem bequeme Unterkunft darstellte, mußten also alle Sachen hierhergebracht werden, ehe die Winterstürme die Sloughi ganz zerstörten.
Jetzt mußte man so schnell wie nur möglich zur Sloughi-Bai und zu den anderen Kameraden zurückkehren; sie waren schon 3 Tage unterwegs und Gordon würde sich sicherlich schon sehr ängstigen. Auf Briants Rat hin wurde beschlossen, gegen 11 Uhr aufzubrechen. Vorher wollten sie aber dem schiffbrüchigen Franzosen noch die letzte Ehre erweisen. Sie hoben mit der Schaufel ein Grab am Fuße des Baumes, wo man ihn gefunden hatte, aus und bezeichneten die Stelle mit einem Holzkreuz, das die Anfangsbuchstaben seines Namens trug. Danach kehrten sie zur Höhle zurück und verbarrikadierten den Eingang. Nach einem letzten Frühstück machten sie sich längs des Steilufers auf dem Landstreifen rechts des Rios auf den Heimweg.
Eine Stunde später kamen sie an jene Stelle, wo sich vor Service die Kalkmassen gelöst hatten. Solange die Kinder am Flußufer entlanggingen, kamen sie schnell und sicher vorwärts. Briant beobachtete den Flußlauf ganz genau, nirgendwo konnte er Stromschnellen oder seichte Stellen entdecken; es schien ihm, als könne man hier ein Boot oder Floß bequem an Zugleinen schleppen. Um 16 Uhr mußten sie das Flußufer verlassen, da sich am rechten Ufer eine breite Schlammstelle befand; man mußte hier durch den Wald gehen, was natürlich eine Verzögerung bedeutete. Das üppig wuchernde Gras und das dichte Unterholz hinderten sie beträchtlich; außerdem war die Sonne bereits gesunken, die Sicht war sehr schlecht. War man gezwungen, noch eine Nacht unter freiem Himmel und fern der sich ängstigenden Kameraden zu verbringen? Das wäre an sich nicht tragisch gewesen, wenn man genügend Nahrungsmittel bei sich gehabt hätte, aber alle Vorräte waren aufgebraucht, und sie hatten Hunger.
»Vorwärts«, mahnte Briant, »wenn wir nach Westen wandern, müssen wir auf den Lagerplatz treffen.«
»Wenn die Karte des Franzosen keine falschen Angaben enthält«, sagte Doniphan.
»Und warum sollten die Angaben falsch sein?«
»Und warum nicht?«
Briant hielt eine Diskussion darüber für wertlos und ging einfach weiter. Gegen 20 Uhr konnte man kaum noch etwas sehen, so dunkel war es mittlerweile geworden, aber noch hatte man die Waldgrenze nicht erreicht.
Plötzlich gewahrte Briant durch eine Lichtung einen hellen Schein.
»Was war das?«
»Eine Sternschnuppe«, meinte Wilcox.
»Nein, eher eine Rakete oder so was.«
»Also dann ein Signal von Gordon«, rief Doniphan und antwortete mit einem Flintenschuß.
Kurz darauf ging eine zweite Rakete hoch. Eine Dreiviertelstunde später hatten die 4 Kinder das Lager erreicht. Gordon bestätigte Doniphans Vermutung. Er hatte aus Besorgnis über das allzu lange Ausbleiben Leuchtsignale abgefeuert.
10
Den Empfang wird man sich leicht vorstellen können. Gordon, Croß, Baxter, Garnett und Webb eilten ihnen mit offenen Armen entgegen, die Kleinen tanzten sogar vor Freude, Phann sprang herum und bellte.