»Unten an der Bai gibt es Robben in rauhen Mengen, damit können wir unsere Fettvorräte aufbessern«, sagte Briant. Sie beschlossen, bei günstigem Wetter auf die Robbenjagd zu gehen, »in ganz großem Stil«, wie Service hinzufügte.
Bald mußte die schlechte Jahreszeit vorüber sein. Während der letzten Augustwoche war schon wieder der mildere Seewind zu spüren, schwere Regenböen brachten schnelle Milderung, der Schnee schmolz. Vom See her hörte man das Bersten der Eisdecke.
Am 10. September waren es genau 6 Monate, seit die Sloughi an den Klippen der Insel Chairman gestrandet war.
14
Mit Beginn der schönen Jahreszeit wollten die Jungen einige Pläne ausführen, die sie während der langen Wintermonate entworfen hatten.
Daß sich im Westen der Insel kein Land befand, war klar. Wie aber sah es im Osten, Norden und Süden aus? Gehörte die Insel Chairman zu keiner Inselgruppe, zu keinem Archipel im Stillen Ozean? Nach der Karte von Frangois Baudoin mußte diese Frage negativ beantwortet werden, aber man hatte ja bei dem schiffbrüchigen Franzosen kein Fernrohr gefunden. Vielleicht entdeckten die nautisch wesentlich besser ausgerüsteten Jungen doch Nachbarland.
»Bevor wir die der Sloughi-Bai gegenüberliegende Bucht untersuchen«, schlug Briant vor, »sollten wir das Terrain zwischen Auckland-hill, Family-lake und den Traps-woods in Augenschein nehmen, möglicherweise finden wir dort fruchtbares Land vor.«
»Dem Kalender nach ist zwar bereits Frühling, aber merken tut man noch nichts davon.«
Während des ganzen Septembers und der ersten Oktoberhälfte herrschte noch ziemlich schlechtes Wetter, heftige Winde wüteten über der Insel, Regen fiel und immer wieder gab es unerwartete Kälteeinbrüche.
»Hier weht die eisige Luft des antarktischen Polarmeeres, verbarrikadieren wir die Türen, sonst werden sie noch einmal eingedrückt!«
»Auch das eßbare Wild hält sich versteckt«, fluchte Doniphan, der gern wieder einmal auf Jagd gegangen wäre. »Inzwischen können wir ja einen Wagen bauen, denn der Tisch war als Schlitten doch nicht gerade das letzte«, sagte Gordon. »Ja, wir haben ja noch die Räder vom Gangspill des Schoners hier, wir müssen sie nur mit einer Eisenstange verbinden.« Nach verschiedenen mißglückten Versuchen gelang es, einen Wagen zu bauen, der zwar ziemlich wacklig war, aber doch einige Dienste leisten konnte.
»Jetzt müssen wir nur noch losen, wer den Maulesel spielt!«
»Service soll lieber seinen Strauß abrichten, damit wir den davorspannen können, das wäre ein Spaß! «
»Schon, aber augenblicklich macht er noch einen recht wilden Eindruck, keine Spur von Haustier!«
»Mein Brausewind wird uns sicherlich bald behilflich sein, ich schwöre darauf, Jack konnte seinen Strauß im Roman auch zum Reittier zähmen!«
»Zwischen deinem Helden und dir liegt das wuchernde Gebiet der Fiktion, vergiß das nicht, du würdest beim ersten Versuch auf die Nase fallen!«
»Machen wir trotzdem den Versuch, Wirklichkeit und Einbildung mit Hilfe unseres Vogels zu vereinen!«
»Vielleicht spricht er eines Tages auch noch englisch«, spottete Doniphan, den die ganze Sache langweilte.
»Lach nur, ich habe schon das Sattelzeug und die Scheuklappen fertig. Rechts rum geht er, wenn ich die rechte Scheuklappe öffne, links herum, wenn ich die linke Klappe öffne, so einfach ist das, ihr werdet noch staunen.«
»Du mußt ihm aber noch einen Hut aufsetzen«, sagte Doniphan gehässig.
»Mach ich auch«, grunzte Service zurück.
Die Tage vergingen. Es war jetzt Mitte Oktober, die Nachtundtaggleiche-Periode ging zu Ende, die Sonne gewann langsam wieder an Kraft, der Himmel schien sich zu weiten. Würde man nicht endlich eine Entdeckung machen, die ihre Lage veränderte? Während des Sommers war es eher möglich, daß ein Schiff an der Insel Chairman vorbeisegelte und die Flagge bemerkte.
»Vertrauen wir auf die Beobachtungsgabe der wachhabenden Offiziere oder Matrosen, sonst können wir uns hier einmotten lassen!«
»Immerhin haben wir hier eine Kolonie«, erwiderte Gordon. »Du kannst einem aber auf den Wecker gehen mit deinem Kolonie-Geschwafel, aber das merkst du wohl nicht. Wir wollen hier heraus, wollen nach Neuseeland zurück, heim zu unseren Eltern, zur Schule!«
»Denkt ihr an zu Hause, ich denke mittlerweile an unsere jetzige Situation, dann geht ja alles in Ordnung. Nach Hause kommen wir nur, wenn wir hier nicht verhungern und nicht krank werden oder erfrieren oder von Raubtieren zerfetzt werden oder was weiß ich.«
In der zweiten Oktoberhälfte wurden mehrere Ausflüge um French-den herum unternommen, an denen nur die Jäger teilnahmen. Obwohl Gordon befohlen hatte, Pulver und Blei zu schonen, trafen Doniphan und seine Kollegen immer mit vollen Händen wieder in French-den ein. In einigen von Wilcox aufgestellten Fallen fingen sich Tinamus und Maras-Hasen, die unseren Meerschweinchen ähnlich sehen. Allerdings hatten die Fallen den einen Nachteil, daß man sie wegen der streunenden Schakale und Paperos zweimal am Tag aufsuchen und leeren mußte. Hin und wieder entdeckte man Spuren größerer Katzen, aber zu Gesicht hatte man sie bis jetzt noch nicht bekommen. Doniphan erlegte auch einmal einige Pecaris und Guaculis, das sind eine Art Eber und Hirsch in kleinerem Format. Daß man keine weiteren Nandus mehr traf, bedauerte keiner der Jungen, hatte man doch mit dem einen von Service die schlechtesten Erfahrungen machen müssen. Das zeigte sich besonders am Morgen des 26. Oktober, als Service den Nandu besteigen wollte. Auf der Sportterrace hatten sich alle versammelt, um diesem waghalsigen Experiment zuzuschauen. Die Kleinen betrachteten Service mit einer Mischung aus Neid und Angst, die Großen zuckten nur mit den Achseln. Gordon hatte versucht, Service von diesem Schritt abzubringen, aber umsonst, er bestand darauf. Während Garnett und Baxter das Tier hielten, dessen Augen mit Scheuklappen verschlossen waren, gelang es Service nach mehreren Versuchen, sich auf den Nandurücken zu schwingen.
»Loslassen!« schrie Service, bereits mehr tot als lebendig Der Nandu blieb zunächst still stehen.
Nachdem aber Service die Klappen gelockert hatte, machte der Nandu einen mächtigen Satz vorwärts und rannte in Richtung Wald davon. Service schloß die Augenklappen sofort wieder, um das Tier zum Stehen zu bringen, aber der Nandu lief und lief und lief. Wenige Augenblicke nach dem furiosen Start wurde Service in hohem Bogen aus dem leichten Sattel geworfen, das Tier verschwand im Wald. Die Kinder liefen herbei, Service saß unverletzt auf einem Grasbüschel und schimpfte wie ein Rohrspatz.
»So ein blödes Vieh, wenn ich das jemals wieder erwische, so ein Depp!«
»Den Typ wirst du nicht wiedersehen!« lachte Domphan lauthals.
»Dein Freund Jack schien doch besser zu sein als du«, hänselte Webb.
»Quatsch, mein Nandu war nur noch nicht richtig gezähmt!«
»Merk dir, daß man Romane nicht allzu ernst nehmen darf«, sagte Gordon und half Service beim Aufstehen.
»Bin ich froh, daß ich nicht mitgeritten bin«, sagten die Kleinen nacheinander.
Mit den ersten Novembertagen wurde das Wetter so schön, daß man einen längeren Ausflug zum Westufer des Sees und weiter bis zum Nordrand machen konnte. Der Himmel war vollkommen klar, die Temperatur erträglich, es wäre nicht tragisch, einige Nächte unter freiem Himmel zubringen zu müssen. An diesem Marsch sollten neben Gordon vor allem die Jäger der Kolonie teilnehmen. Die Zurückgebliebenen sollten von Briant und Garnett überwacht werden. Briant dachte daran, selbst irgendwann einen Ausflug zum unteren Seeteil zu machen. Am Morgen des 5. November brachen Gordon, Doniphan, Baxter Wilcox, Croß und Service auf. Gordon, Doniphan und Wilcox waren mit Gewehren bewaffnet, alle anderen trugen einen Revolver. Außerdem hatten sie Jagdmesser und 2 Äxte dabei. Um Munition zu sparen, trug Baxter Lassos und Bolas im Gepäck mit, Gordon schleppte das 12 Pfund schwere, zusammenfaltbare Halkett-boat, denn die Karte von Frangois Baudoin zeigte 2 Zuflüsse zum See, die man vielleicht nicht durchwaten konnte.