»Ich glaube, hier ist kein guter Landeplatz! Fahren wir lieber noch einen Kilometer weiter nach Norden.«
Plötzlich rief Briant:
»Da ist ja der auf der Karte verzeichnete Rio!« und wies dabei auf einen Einschnitt des Landes.
»Nennen wir ihn einfach East-river, da er nach Osten fließt.«
»Fahren wir mit der Strömung des East-river bis zu dessen Mündung«, schlug Moko vor.
»Morgen; bleiben wir die Nacht hier. Bei Tag können wir auch die beiden Ufer des Rio besser beobachten.«
»Sollen wir aussteigen?« fragte Jacques. »Natürlich, wir lagern am besten unter den Bäumen!« Briant, Jacques und Moko sprangen mit einem Satz ans Ufer. Nachdem die Jolle an einem Baumstumpf fest vertäut war, wurde sie entladen. Bald schon brannte ein Lagerfeuer aus dürrem Eichenholz. Die Ausflügler aßen zu Abend und rollten sich dann in die mitgenommenen Decken ein. Die Waffen waren geladen, für den Notfall lagen sie griffbereit. Aber die Nacht verlief ruhig.
»Auf geht's! « rief Briant, der um 6 Uhr früh als erster erwachte.
Schon nach einigen Minuten saßen sie alle in der Jolle und überließen sich der Strömung des Rio. Sie war eine halbe Stunde nach Eintritt der Ebbe so stark, daß die Ruder gar nicht gebraucht wurden. Briant und Jacques saßen vorne, Moko hielt hinten das Steuer.
»Vielleicht reicht die eine Ebbeperiode aus, um bis zum Meer zu kommen, denn die Strömung des East-river ist beträchtlich stärker als die des Rio Sealand.«
»Für den Rückweg brauchen wir dann aber wahrscheinlich 2 bis 3 Flutwellen.«
Der East-river floß ziemlich gerade in ostnordöstliche Richtung, sein Bett war tiefer eingeschnitten als das des Rio Sealand und auch weniger breit, das erklärte die hohe Strömungsgeschwindigkeit. Unter den Bäumen, die Briant während der Fahrt vom Boot aus beobachtete, entdeckte er eine Pinie.
»Wenn Sie sich nicht getäuscht haben, Herr Briant, dann sollten wir einen Augenblick anhalten, die Mühe lohnt sich.«
Ein Ruderschlag trieb die Jolle zum linken Ufer. Briant und Jacques sprangen an Land. Wenige Minuten später brachten sie eine Menge jener wohlschmeckenden Zirbelnüsse, deren eiförmige Mandel ein vortreffliches Öl liefert.
»Wieder ein kostbarer Fund für uns Feinschmecker!«
»Wir sollten noch auskundschaften, ob dieser Wald ebenso wildreich ist wie die Wälder westlich des Sees.«
Kaum im Wald, sah Briant eine erschreckte Herde Nandus durch das Dickicht flüchten, darauf Vigogne-Schafe und einzelne Guanakos. Auch an Geflügel schien kein Mangel zu herrschen, Doniphan hätte ganz schön schießen können.
Gegen 11 Uhr lichtete sich der Wald etwas, die von vorne wehende Brise schmeckte bereits salzig, die bisher ganz unbekannte Küste konnte also nicht mehr weit sein. Einige Minuten später passierte die Jolle die Felsen, die sich an diesem Teil der Küste erhoben. Moko steuerte zum linken Ufer, schleifte die Jolle zum Strand und vertäute sie.
»Wie verschieden ist doch dieses Bild im Vergleich zu dem der Westküste«, sagte Briant.
Zwar erstreckte sich auch hier eine weite, der Sloughi-Bai ähnelnde Bucht, doch statt des breiten, sandigen Vorlandes mit dem Klippengürtel an der einen und dem hohen Steilufer an der anderen Seite der Wrack-coast, lagen hier nur Felsen herum, die allerdings, wie sich Briant überzeugen konnte, ungefähr 20 Aushöhlungen besaßen, in denen man sehr gut hätte hausen oder auch nur übernachten können.
»Wäre die Sloughi hier an Land gespült worden, hätten wir nicht so lange nach einer Höhle suchen müssen, außerdem hätte der Schoner in der Mündung des East-river so eine Art natürlichen Hafen gefunden«, sagte Briant.
»Einen Hafen, in dem selbst bei tiefster Ebbe noch Wasser gestanden hätte«, ergänzte Moko.
»Diese Gegend scheint verlassen zu sein.«
»Wie alle anderen Teile der Insel auch.«
»Kein Schiff zu sehen«, sagte Briant, der den Horizont mit seinem Fernrohr absuchte.
»Auch kein Land oder eine Insel«, erwiderte der neben ihm stehende Moko.
»Also ist auch in diesem Punkt die Karte des schiffbrüchigen Franzosen genau.«
»Herr Briant, wollen wir diesem Küstenstrich nicht einen Namen geben?« fragte Moko.
»Ja, ich glaube der Name Deception-Bai, Bai der Enttäuschung, ist angemessen, auch wenn ich eigentlich nicht sehr viel mehr erwartet habe.«
»Ich denke, wir sollten erst einmal frühstücken.«
»Aber es muß schnell gehen. Wann kann denn die Jolle den East-river wieder hochsegeln?«
»Wollen wir diese Flut benützen, dann müssen wir gleich einsteigen.«
»Dann warten wir die nächste ab. Ich möchte doch noch den Horizont in aller Ruhe und von der Höhe des höchstliegenden Felsens aus beobachten.«
»Die nächste Flut tritt aber erst gegen 22 Uhr ein.«
»Traust du dir zu, auch bei Nacht zu fahren, Moko?«
»Selbstverständlich! Wir haben gerade Vollmond, außerdem verläuft der Rio so geradlinig, daß gar nichts passieren kann. Sollte sich die Strömung umkehren, so rudern wir, sollte auch das wegen der Stärke der Strömung unmöglich sein, so legen wir eben einfach bis zum nächsten Tag an.«
»Gut, Moko, einverstanden! Wir haben jetzt noch 12 Stunden, um unsere Nachforschungen zu vervollständigen.«
Nach dem Frühstück wurde dieser Küstenabschnitt besichtigt. An eßbarem Wild gab es hier soviel wie anderswo auch. Briant schoß so nebenbei gleich einige Tinamus fürs Abendbrot. Das charakteristische Merkmal dieser Küste waren die mächtigen Granitblöcke, die chaotisch durcheinandergewürfelt herumlagen, eine Art Feld von Carnac. Eine Kleinigkeit, sich hier einzunisten! Briant überlegte sich natürlich, warum der schiffbrüchige Franzose Frangois Baudoin nicht hier gehaust hatte. Daß er diesen Teil der Insel besucht haben mußte, ging eindeutig aus der von ihm gefertigten Karte hervor. Der Verlauf der Küste war exakt eingezeichnet. Vielleicht hatte er bereits seine Wohnung in French-den aufgeschlagen, ehe ihn seine Nachforschungen hierher führten. Dazu kam noch, daß French-den trotz allem viel geschützter lag als jede dieser 20 Aushöhlungen.
Gegen 14 Uhr, als die Sonne ihren höchsten Stand schon überschritten hatte, schien der Moment günstig, das Meer genauer zu beobachten. Briant, Jacques und Moko erkletterten den höchsten Felsen am Strand, von hier aus konnte man weit hinausschauen. Briant richtete sein Fernrohr zum östlichen Horizont, der sich klar vom Himmel abhob. Nichts war zu sehen, nichts als das endlose Meer, das der Himmel in einer nicht enden wollenden Linie begrenzte. Eine ganze Stunde lang beobachteten die 3 Jungen ohne Unterbrechung das Meer. Plötzlich packte Moko Briant am Arm.
»Was ist denn das da draußen?« fragte er, die Hand nach Nord-Osten ausgestreckt.
Briant griff hastig zum Fernrohr und richtete es auf den von Moko bezeichneten Punkt.
Tatsächlich! Dort glänzte, ein wenig über dem Horizont, ein weißlicher Fleck! Wäre der Himmel augenblicklich nicht so wolkenlos gewesen, man hätte diesen Punkt leicht mit einer Wolke verwechseln können. Auch blieb der Fleck, wie sich alle überzeugen konnten, unbeweglich.
»Ich habe dafür keine Erklärung. Ist es ein Berg? Aber ein Berg würde anders aussehen.«
Da die Sonne bereits mehr und mehr im Westen versank, war der weiße Fleck bald ganz verschwunden. War er eine Widerspiegelung des Sonnenlichts auf dem Wasser? Oder Land? Eine Insel? Ein Segel? Die 3 konnten sich darüber nicht klar werden«