Sie stiegen ratlos zur Mündung des East-river hinunter, in dessen natürlichem Hafen die Jolle vertäut lag. Jacques sammelte unter den Bäumen dürres Holz und zündete ein Feuer an, Moko grillte darauf die Tinamus.
Gegen 19 Uhr gingen Briant und Jacques noch ein wenig am Strand spazieren, um sich die Zeit bis zur nächsten Flut zu vertreiben. Moko seinerseits stieg das linke Rioufer hinauf, um noch einige Früchte der Zirbelfichte zu pflücken. Als er zur Jolle zurückkam, waren die beiden Brüder noch nicht wieder zurück, obgleich es längst dunkel geworden war und die Zeit drängte. Plötzlich hörte er ein Schluchzen und gleichzeitig eine laute Stimme; das war Briant. Waren die Brüder bedroht von irgendwelchen Eingeborenen? Moko zögerte keinen Augenblick und eilte zum Strand hin. Doch dann blieb er stehen. Jacques lag vor Briant auf den Knien! Er schien ihn anzuflehen, schien ihn um Gande zu bitten! Moko wollte sich abdrehen und zur Jolle zurückgehen, aber da war es bereits zu spät. Er hatte schon alles gehört, er wußte nun, was Jacques bedrückte, was 'er sich hatte zuschulden kommen lassen.
»Was?!! Du hast das getan? Du bist es gewesen?« rief Briant.
»Verzeihung, Bruder, ich bitte dich inständig um Verzeihung!«
»Deshalb also hieltest du dich von den Kameraden fern, du hattest Angst vor ihnen! Oh, wenn sie es erfahren! Nein, kein Wort darüber! Zu niemandem ein Wort!«
Moko hätte viel darum gegeben, nicht gegen seinen Willen in dieses abscheuliche Geheimnis eingeweiht worden zu sein. Nun konnte er sich nicht mehr unwissend stellen. Deshalb sagte er zu Briant, als sich alle wieder zur Jolle begeben hatten
»Herr Briant, ich habe alles mit angehört!«
»Was?! Du weißt, daß Jacques .. .!«
»Tut mir leid! Herr Briant, verzeihen Sie Ihrem Bruder.«
»Würden die anderen ihm auch verzeihen?«
»Vielleicht, ich weiß nicht genau. Auf jeden Fall ist es besser, sie erfahren überhaupt nichts von der Angelegenheit. Ich werde schweigen, darauf gebe ich mein Wort.«
»Danke, Moko«, sagte Briant gerührt und schüttelte dem Schiffsjungen lange die Hand.
Während der nächsten 2 Stunden und bis zur endgültigen Abfahrt der Jolle sprach Briant kein einziges Wort mit seinem Bruder. Jacques blieb auf einem Felsen sitzen, wie er sich fühlen . mußte, war nicht schwer zu erraten. Er war niedergeschlagen und zugleich befreit, dem Drängen Briants nachgegeben zu haben. Gegen 22 Uhr nahm die Flut merklich zu. Briant, Jacques und Moko bestiegen die Jolle, lösten die Vertäuung und ließen sich von der Strömung den East-river hinauftreiben. Im fahlen Mondlicht war die Strecke leidlich zu erkennen, so daß die manchmal herüberhängenden Bäume keine Gefahr bildeten. Moko war ja ein gewandter Steuermann, dem man sich ruhig anvertrauen konnte. Um halb ein Uhr setzte die Ebbe ein.
»Halten wir an und warten wir die nächste Flut ab, das wird das beste sein.«
»Wann geht's dann weiter?«
»Voraussichtlich um 6 Uhr!«
Um 6 Uhr legte die Jolle vom Ufer wieder ab und trieb glücklich bis zum Family-lake. Moko hißte die Segel, unter einer leichten Brise steuerte er die Jolle in Richtung French-den. Kurz nach 18 Uhr meldete Garnett die Ankunft der 3 Ausflügler. Wie immer, wenn die Kameraden von einer Expedition nach French-den zurückkamen, war der Empfang überaus herzlich.
18
Nach der von Moko zufällig beobachteten Szene hielt es Briant für gut, niemandem, auch nicht Gordon, davon etwas mitzuteilen. Was den Ausflug zur Küste betraf, so erzählte er den in der Halle versammelten Kolonisten alle Vorkommnisse ausführlich.
»Also auch dort kein Land. Sicherlich war der von uns dreien gesehene weißliche Fleck nur eine Täuschung. Wir müssen jetzt als sicher annehmen, daß die Insel Chairman weit entfernt von jeglicher Küste oder einer anderen benachbarten Insel liegt.«
Die anderen Jungen hörten dieser Schlußfolgerung stumm und sehr enttäuscht zu. Also keine Hoffnung mehr, daß sie doch noch gefunden wurden!
»Nehmen wir den Kampf ums Dasein wieder auf«, erklärte Gordon, »es bleibt uns keine andere Wahl, wir müssen auch ohne die Hoffnung auf baldige Rettung versuchen, so lange wie möglich zu überleben, d. h. so lange wie möglich so gut wie möglich zu leben.«
»Versuchen wir, uns besser als im Vorjahr auf den kommenden Winter vorzubereiten.«
Briant widmete sich dieser Aufgabe mit noch größerer Anstrengung als bisher - aber es fiel auf, daß er seit der Rückkehr vom East-river weniger mitteilsam geworden war und gleich seinem Bruder schweigsamer. Er hielt sich öfter als zuvor von den Vergnügungen der anderen fern. Gordon beobachtete, wie Briant seinen Bruder Jacques überall, wo er nur konnte, in den Vordergrund schob, daß er ihn für besonders schwere und Mut erfordernde Arbeiten auswählte, wozu Jacques immer und spontan bereit war.
»Irgend etwas ist zwischen den beiden vorgefallen, aber was?« fragte sich Gordon.
Der Februar verstrich unter gewöhnlichen Arbeiten. Als Wilcox die Rückkehr der Lachse zum Süßwasser des Family-lake meldete, spannten die Jungen ein großes Netz quer durch den Rio Sealand und fingen eine ungeheure Anzahl Fische. Damit sie konserviert werden konnten, brauchte man sehr viel Salz. Deshalb unternahmen Baxter und Briant mehrere Ausflüge zur Sloughi-Bai, wo sie einen kleinen Salzsumpf anlegten. Durch Verdunsten des Wassers kristallisierte sich aus dem Meerwasser Salz heraus, das dann nur noch eingesammelt und nach French-den gebracht werden mußte.
Überhaupt waren die Jungen während der ganzen Zeit damit beschäftigt, die Vorräte an Wild, Fett, Gemüse und Brennmaterial zu vervollständigen, damit sie während der Wintermonate nicht aus der Höhle herausmußten.
Gordon achtete darauf, daß auch die Programmpunkte wie Sport und Unterricht in Mathematik, Erdkunde und Geschichte peinlich genau eingehalten wurden. Doniphan prahlte während der zweimal wöchentlich angesetzten Diskussionsabende so offensichtlich mit seiner unbezweifelbaren rhetorischen Begabung, daß er sich dadurch viele Freunde verdarb. Dennoch rechnete er fest damit, nach Ablauf der Amtsperiode Gordons zum Oberhaupt der Kolonie gewählt zu werden. Wilcox, Webb und Croß bestärkten ihn noch in seinen Vorstellungen, daß keiner der Jungen so gut für diesen Posten geeignet sei wie gerade er. Sie machten auch schon unter den Kleineren der Kolonie »Stimmung« für ihn. Aber Doniphan hatte nicht die Mehrzahl der Kolonisten auf seiner Seite. Gordon durchschaute natürlich, was da in der Luft lag, bemühte sich aber keineswegs, obwohl noch einmal für ein Jahr wählbar, noch einmal um diesen schweren, verantwortungsreichen Posten. Sein etwas hartes, entschiedenes Auftreten hatte ihm nicht die Gunst seiner Kameraden eingetragen oder bewahrt, und genau das wußte Doniphan. Was die Kleinsten Gordon besonders verübelten, war seine Sparsamkeit bezüglich süßer Speisen und anderer Delikatessen. Außerdem hatte er sie zu oft ermahnt, besser auf ihre Kleider und Schuhe achtzugeben, das verärgerte besonders die leidenschaftlichen Fußballspieler. Und wieviel Vorwürfe gab es über die verlorenen oder auch nur abgerissenen Knöpfe! Bei solchen Streitereien trat Briant öfters als Fürsprecher der Kleinen auf, was ihm natürlich viele Sympathien eintrug. Ferner wußten sie ganz genau, daß die beiden Küchenchefs Moko und Service immer zu Briant hielten, wenn er also zum Oberhaupt der Insel Chairman gewählt werden würde, gäbe es möglicherweise öfters Leckerbissen als unter dem Patronat Gordons.
Briant selbst interessierten diese ganzen, meist heimlich geführten Debatten überhaupt nicht; ihm war relativ gleichgültig, wer zum nächsten Oberhaupt gewählt wurde, an der derzeitigen Lage würde das nichts ändern! Das Jahr, für welches Gordon gewählt worden war, ging am 10. Juni zu Ende. Schon Tage zuvor herrschte in French-den eine eigenartig erregte Atmosphäre, es bildeten sich kleinere Diskussionsgruppen, vertrauliche Besprechungen, heimliche Zusammenkünfte fanden statt. Gordon hielt sich abseits, er wollte ohnehin nicht mehr kandidieren. Was Briant betrifft, so war er viel zuviel Franzose, als sich nach einem solchen Posten die Finger zu lecken, er wollte keine Kolonie führen, deren Mitglieder in der Mehrzahl Engländer waren. Besorgt und einigermaßen aufgeregt war nur Doniphan. Mit seiner außergewöhnlichen Intelligenz und seinem von keinem der Kinder bezweifelten Mut hätte er an sich gute Chancen gehabt, wären nicht die minderen Charakterqualitäten wie Herrschsucht und Neid gewesen, die ihm so viele Feinde eintrugen. Was er nicht offen tun konnte, erledigten für ihn seine Freunde Wilcox, Croß und Webb mit übergroßem Eifer; sie versuchten, ihre Kameraden davon zu überzeugen, daß es keinen besseren gab als Doniphan.