»Was meinst du damit?« fragte Wilcox kopfschüttelnd. »Ich setze voraus, daß wir ihn zu diesem Zweck angefertigt haben!«
»Am hellichten Tag willst du den Drachen steigen lassen?«
»Nein, Baxter, natürlich nachts, damit ihn Walston nicht erkennen kann.«
»Wenn du eine Laterne dran hängst, wird er ihn aber wahrnehmen.«
»Dann hänge ich eben keine Laterne dran.«
»Wozu denn das Ganze?« fragte Gordon unruhig. »Ich möchte wissen, ob die Mannschaft vom Severn noch hier ist!«
Briant erläuterte nun sein Projekt. Seine Kameraden hörten aufmerksam zu, keiner fand diese Idee komisch oder zu wagemutig, sie wußten, daß sie in einer so deprimierenden Lage zu ausgefallenen Dingen greifen mußten. Außerdem lebten sie seit über einem Jahr in permanenter Gefahr!
»Wie steht es aber mit dem Gewicht eines von uns im Vergleich zum gebauten Drachen?«
»Wir werden ihn vergrößern müssen, das ist klar.«
»Kann denn der Luftwiderstand so groß sein?«
»Sicher!«
»Das ist bewiesen. Ich habe von einem solchen Projekt gelesen, damals schwebte eine Frau in den Lüften. Alles hängt von den Größenverhältnissen des Apparates und von der Windstärke ab.«
»Ich habe es gründlich satt«, entrüstete sich Service plötzlich, »hier in French-den festzuhocken, nur weil ein paar Wildwesthelden hier gestrandet sind. Machen wir uns an das von Briant erdachte Projekt!«
»Service hat recht, ich möchte endlich wieder einmal mit der Flinte schießen, sonst verlerne ich es noch, wenn es darauf ankommt.«
Als Briant mit Gordon allein war, wurde er von ihm gefragt : »Ist denn das dein Ernst?«
»Gordon, ich will es versuchen!«
»Und wer setzt dabei sein Leben aufs Spiel?«
»Wird sich zeigen!«
24
Der erste Versuch bewies, daß der Drachen in seiner jetzigen Größe einen 20 Pfund schweren Sack aufhob. Eine von der Sloughi herübergeschaffte Waage bestimmte dieses Gewicht sehr genau. Baxter verstärkte nun in erster Linie die Rohrstäbe, dann verlängerte er das gesamte Gestell und erweiterte den geteerten Leinwandbezug. Wären Baxter und Briant besser in der Mechanik bewandert gewesen, hätten sie die Grundprinzipien — das Gewicht, die Oberfläche, den Schwerpunkt und den Luftwiderstand — genauer beachten können. So peilten sie doch manches mehr oder weniger exakt über den Daumen.
»Um die Gefahr eines möglichen Absturzes zu verringern, machen wir den Aufstieg am besten über dem See. So bricht sich wenigstens der mutige Flieger nicht die Knochen.«
»Und er kommt leicht wieder an Land!«
»Wie hält sich der Flieger eigentlich fest?«
»Wir bauen eine Gondel aus dem üblichen Rohrgeflecht, das hält das Gewicht gut aus.«
Am Morgen des 5. hatte man die Arbeit begonnen, am Nachmittag des 7. war sie beendet. Noch am Abend sollte ein Probeaufstieg stattfinden.
Während der letzten Tage hatte sich die Lage der Kolonie nicht verändert. Wiederholt waren einige Jungen stundenlang am Steilufer gelegen,
um die Umgegend besser beobachten zu können. Aber sie konnten nichts Verdächtiges wahrnehmen, keine Rauchsäule, keinen Flintenschuß. Hatten sich die Gangster doch verzogen? Hatten sie die Schaluppe ausbessern können?
»Bevor wir unseren Ballon steigen lassen, muß noch eine wichtige Frage geklärt werden: wie kann der Flieger sich mit den anderen unten im Notfalle verständigen?«
»Ein Lichtsignal ist ausgeschlossen, das kann man sehen!«
»Ich hab's«, sagte Briant, »wir fertigen einen Bindfaden mit einer Bleikugel an; wenn der Flieger etwas entdeckt hat, läßt er die Kugel einfach nach unten sausen, dann wissen die anderen Bescheid. Das alles geht lautlos und sicher vor sich!«
»Einverstanden!«
In der Mitte der Sport-terrace war eine Winde von der Sloughi aufgestellt, daran sollte der Ballon hoch- und heruntergelassen werden. In die Gondel hatte Briant einen Sack mit Erde gelegt, der genau 130 Pfund und damit mehr wog, als der schwerste seiner Kameraden.
»Achtung!« rief Briant.
»Wir sind fertig!« antwortete Doniphan.
»Los!«
Der Apparat stieg langsam hoch, er knarrte ein wenig unter dem Druck des Windes und neigte sich bedrohlich zur Seite.
»Nachlassen! . . . Schnur nachlassen!« rief Wilcox.
Der Drachen stieg weiter in die Höhe. Obwohl es eine fahrlässige Unklugheit war, schrien die Kleinsten doch vor Freude über den geglückten Probeflug. Langsam verschwand der Drachen in den niederhängenden Wolken.
»Laßt die Schnur ganz abrollen!« befahl Briant.
Nach einigen Minuten empfahl Briant, man solle den Drachen wieder herunterholen. Auch die Landung, sonst immer schwieriger als der Start, klappte gut. Der Drachen legte sich sanft und ohne an einer Stelle zu brechen auf den Boden. Am folgenden Tag, dem 8. November, sollte der richtige bemannte Start erfolgen.
»Laßt uns zurück nach French-den gehen«, schlug Gordon vor.
»Einen Augenblick«, antwortete Briant, »ich habe einen Vorschlag!«
»Schnell, wir müssen zurück, bevor es Mitternacht ist.«
»Wir haben den Drachen eben ausprobiert! Alles hat geklappt, die Windverhältnisse sind ausgezeichnet! Wissen wir aber, wie das Wetter morgen ist? Deshalb schlage ich vor, die Gunst der Stunde zu nützen, und schon heute nacht, jetzt gleich, den bemannten Versuch zu starten.«
Die Kameraden stimmten zu.
»Wer wird aufsteigen?«
»Ich!« rief Jacques sofort.
»Ich!« . . . Ich!«
Von allen Seiten kamen die Angebote.
»Laß mich es wagen, Bruder, mir kommt diese schwere Aufgabe am ehesten zu, du weißt es!«
»Und warum?« wollte Doniphan wissen.
»Weil es meine Pflicht ist! « stieß Jacques hervor.
»Deine Pflicht, was heißt das!«
»Nun also, Bruder, wie steht es?« drängte Jacques, der den Fragen seiner Kameraden ausweichen mußte.
»Antworte, Briant«, sagte Doniphan, »wie kommt es, daß Jacques behauptet, ein Recht auf diesen Flug zu haben? Was hat er getan, daß er so redet?«
»Was ich getan habe?« antwortete Jacques zaudernd. »Was ich getan habe, das . . . will ich euch . . .«
»Jacques, ich bitte dich!« rief Briant, aber er konnte das Geständnis seines Bruders nicht mehr verhindern.
»Gordon, Doniphan, ihr alle, die ihr hier auf der Insel gefangen seid, es ist meine Schuld . . . wenn ihr eure Eltern nicht mehr wiedersehen werdet ... ich habe es getan . . . daß die Sloughi aufs Meer hinausgetrieben wurde . .. kam daher, daß ich ... aus einer verrückten Laune, einer irrsinnigen Spielerei . . . aus Unverstand die Taue kappte, die sie mit dem Quai von Auckland verband. Ich habe den Verstand verloren, ich weiß nicht, warum ... ich es tat ... als ich zu mir kam, war es bereits zu spät. Verzeihung, meine Freunde, ich bitte euch alle inständig um Verzeihung!«
Danach brach er zusammen; sofort bemühte sich Kate um ihn.
»Jacques, du hast deinen Fehler gestanden«, sagte Briant ruhig, »und jetzt willst du alles daran setzen, ihn wieder etwas wettzumachen.«
»Das hat er schon längst getan«, mischte sich da Doniphan ein, »hat er nicht mehrmals sein Leben für uns alle aufs Spiel gesetzt? Jetzt verstehe ich dich auch, Briant, daß du deinen Bruder immer vorgeschickt hast, wenn es um die Erledigung eines besonders heiklen Unternehmens ging. So wagte sich Jacques seinerzeit auch auf den dicht vernebelten See hinaus, um Croß und mich zu suchen!«