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»Laß nur, das mache ich schon.«

»Willst du dabei die Jolle benützen?«

»Nein, die müssen wir uns als allerletzte Hoffnung aufheben.«

Bevor Briant an die Arbeit ging, wollte er noch eine wichtige Anordnung treffen. An Bord befanden sich verschiedene Schwimmwesten, er befahl den Kleinen sie anzuziehen. Sollte die Sloughi sich auf die Seite legen, während er mit dem Tau beschäftigt war, mußten die Kleinen sich vielleicht selbständig über Wasser halten, und das war bei der stürmischen See nicht einfach.

Es war jetzt 10.15 Uhr. In 45 Minuten mußte die Ebbe den tiefsten Stand erreicht haben. An Bord befanden sich mehrere Taue von über 30 m Länge, Briant wählte eines von mittlerer Dicke aus und befestigte es an seinem Gürtel.

»Achtung«, rief Gordon seinen Kameraden zu, »hierher auf's Vorderdeck; und laßt das Tau gleichmäßig nachgleiten.«

Briant wollte gerade über Bord springen, als ihn sein Bruder zurückhielt.

»Du willst wirklich in diesen Hexenkessel springen?«

»Keine Angst, Jacques! Ich schaff' das schon!«

Dann hechtete er ins Meer, tauchte sofort wieder auf und schwamm mit kräftigen Stößen vorwärts, während hinter ihm das Tau abrollte. Trotz größter Anstrengung kam er nur langsam vorwärts, immer wieder mußte er Wellenkämmen und tiefen, gefährlichen Strudeln ausweichen. Da überschlugen sich plötzlich dicht vor ihm einige hohe Wellen und bildeten rasch einen Wirbel. Briant versuchte nach links abzudrehen, aber er hatte offensichtlich nicht mehr genügend Kraft, die rotierenden Wasserscheiben drehten ihn immer näher an den Abgrund heran.

»Hilfe!!! Zieht an!« schrie Briant, dann verschwand er unter einigen Wogen.

An Bord der Sloughi waren alle wie gelähmt.

»Einholen!!« schrie Gordon.

In wenigen Minuten war Briant, freilich bewußtlos, an Bord gehievt; doch kam er bald wieder zu sich. Der Versuch mit dem Tau war also gescheitert, keiner der anderen Kameraden war imstande, es noch einmal und mit mehr Aussicht auf Erfolg zu versuchen.

Mittag war bereits vorüber und das Meer begann langsam wieder anzusteigen. Da gleichzeitig Neumond war, mußte die Flut höher werden als in der Unglücksnacht zuvor. Der Wind peitschte das Land mit voller Wucht. Alle Kinder standen dicht beisammen auf dem Achterdeck, keiner sprach ein Wort, sie betrachteten den aufkommenden Sturm. Kurz vor 2 Uhr hatte die Sloughi sich wieder aufgerichtet. In diesem Moment kam ein schaumgekrönter, riesiger Wellenberg auf das Schiff zu, türmte sich meterhoch vor der Jacht auf, tobte über den Klippengürtel hinweg und hob die Sloughi auf, und ohne daß der Kiel die Felsen auch nur streifte, wurde das Schiff im Bruchteil einer Sekunde mitten auf den Strand getragen, kaum 200 Schritte von den Bäumen des hohen Uferrandes entfernt. Und hier blieb es unbeweglich sitzen, während das Meer wieder zurückflutete.

3

 Zur Zeit unserer Geschichte war die Pension Chairman eine der angesehensten Schulen in Auckland, der Hauptstadt der englischen Kolonie Neuseeland. Etwa 100 Kinder aus den besten Familien des Landes wurden hier erzogen und ausgebildet. Für die Maoris, den Eingeborenenstamm der Inselgruppe, standen andere, weniger vornehme und gründliche Erziehungsanstalten bereit. Die Pension Chairman besuchten nur junge Engländer, Franzosen, Amerikaner und Deutsche, ausnahmslos Söhne reicher Plantagenbesitzer, Kaufleute, Rentiers oder Beamter. Am 15. Februar 1860 begannen in Auckland die Ferien: 2 Monate Unabhängigkeit, 2 Monate Freiheit! Eine kleine, ausgesuchte Zahl der Chairman-Zöglinge durfte sich jetzt auf eine Seereise, eine Umsegelung Neuseelands an Bord der luxuriösen Jacht Sloughi freuen. Der von den betreffenden Eltern gecharterte Schoner war für eine 6wöchige Reise ausgerüstet worden, er gehörte dem Vater von Garnett, M. William Garnett, ehemals Kapitän der Handelsflotte, einem erfahrenen Mann also, dem man sich anvertrauen konnte. Die Zöglinge, die an der Fahrt der Sloughi teilnehmen durften, gehörten verschiedenen Abteilungen der Pension Chairman an. Hier ihre Namen sowie Alter, Charakter und Gewohnheiten. Mit Ausnahme zweier Franzosen, der Brüder Briant, und des Amerikaners Gordon sind alle englischer Abkunft.

Doniphan und Croß stammen beide aus der Familie reicher Landeigentümer; 13 Jahre und wenige Monate alt, Vettern und zur Zeit Mitglieder der 5. Abteilung. Der elegante, strebsame und sehr auf seine äußere Erscheinung bedachte Doniphan ist ohne Zweifel der herausragende Zögling. Ein gewisser aristokratischer Stolz hat ihm den Spitznamen »Lord Doniphan« eingetragen. Er ist ehrgeizig und immer darauf erpicht, die Hauptrolle zu spielen, was nur noch zugenommen hat, seitdem Briants Einfluß auf seine Kameraden gewachsen ist. Croß, ein gewöhnlicher Durchschnittsschüler, durchdrungen von einer kritiklosen Bewunderung für alles, was sein Vetter denkt, spricht oder tut. Der verschlossene, fleißige Baxter, 13 Jahre alt, Sohn eines Kaufmannes in relativ bescheidenen Vermögensverhältnissen, kommt ebenfalls aus der 5. Abteilung der Pension. Er zeichnet sich vor allem durch eine verblüffende Erfindungsgabe und durch besondere Fingerfertigkeit aus.

Webb und Wilcox, beide zwölfeinhalb Jahre alt, Söhne reicher Beamtenfamilien, Zöglinge der 4. Abteilung, sind beide ziemlich eigenwillig und sehr streitsüchtig.

Garnett und Service, 12 Jahre alt, der eine Sohn des pensionierten Flottenkapitäns, der andere Sohn eines wohlhabenden Farmers, stammen aus der 3. Abteilung und sind unzertrennliche Freunde. Garnett ist träge, aber gutmütig, Service hingegen ausgelassen und träumerisch. Mit Vorliebe rezitiert er die Abenteuer des Robinson Crusoe aus dem Gedächtnis.

Jenkins, Sohn des Vorsitzenden der »New Seeland Royal Society« und Iverson, Sohn eines Pfarrers, sind beide 9 Jahre alt.

Dole, achteinhalb, und Costar, 8 Jahre alt, sind beide Söhne von Offizieren der englisch­neuseeländischen Armee. Der aus Boston gebürtige Amerikaner Gordon ist 14 Jahre alt. Sowohl seine Erscheinung wie auch seine Haltung verraten deutlich die rohe Urwüchsigkeit des Yankee. Obwohl linkisch und schwerfällig, ist er doch der bei weitem gesetzteste aller Chairman- Schüler; er wird von allen sehr geschätzt, weil er ein scharfes Urteilsvermögen und viel gesunden Menschenverstand besitzt. Gordon ist Vollwaise, sein Vormund ließ sich vor einiger Zeit in Neuseeland nieder und seitdem besucht Gordon die Pension.

Die Brüder Briant sind die Söhne des berühmten Ingenieurs, der vor Jahren nach Neuseeland kam, um die umfangreichen und beschwerlichen Arbeiten der Sumpftrockenlegung im Inneren Ika- Na-Mawis zu leiten. Der ältere ist 13 Jahre alt, erwiesenermaßen hochintelligent und von ungewöhnlichem Gedächtnis, aber trotz dieser guten Anlagen nicht besonders fleißig. Zwischen ihm und Doniphan hat es schon immer Reibereien gegeben. Briant ist von der Zehe bis zum Haar ein echter Franzose, unternehmungslustig, kühn und etwas lässig gekleidet. Unter seinen Kameraden ist er außerordentlich beliebt. Als die Sloughi in Seenot geriet, zögerten nur einige wenige, eben jene Gruppen um Doniphan, ihm das Kommando zu überlassen.

Jacques, sein jüngerer Bruder, war bisher stets ein verrückter Spaßvogel, vielleicht sogar der lustigste der ganzen Pension. Er ersann immer neue Possen und Streiche, für die er dann anschließend lächelnd und irgendwie selbstbewußt die Strafe kassierte. Seit der Abfahrt des Schiffes jedoch hat er sich höchst auffallend verändert; keiner konnte sich diese Wandlung erklären.

Das also war die Kindergesellschaft, welche von einem fürchterlichen Sturm an ein ihnen unbekanntes Gestade des Stillen Ozeans geworfen worden war.

Eigentlich sollte die Sloughi während der Umsegelung Neuseelands von Garnetts Vater befehligt werden. Die Besatzung bestand aus einem Obersteuermann, 6 Matrosen, einem Koch und einem Schiffsjungen, jenem Moko, dessen Familie bei einem Ansiedler von Neuseeland beschäftigt war. Und nicht zu vergessen: Phann, den schönen Jagdhund Gordons. Als Abfahrtstag war der 15. Februar bestimmt worden. Die Sloughi lag, von dicken Sorrtauen gehalten, am äußersten Ende der Commercial-Pier, nahe der Seeseite des Hafens. Die Besatzung war nicht an Bord, als sich die jungen Passagiere am Abend des 14. Februar einschifften. Kapitän Garnett sollte erst eintreffen, wenn alles an Bord erledigt war. Nur der Obersteuermann und der Schiffsjunge empfingen Gordon und seine Kameraden, die übrige Mannschaft saß noch bei einem Glas Whisky in der Hafenbar. Nachdem alle Kinder untergebracht waren, ging auch der Obersteuermann noch kurz einen heben. Schiffsjunge Moko legte sich schlafen.