»Woher sollen wir wissen, dass ihr am Leben seid?«, rief eine heisere Stimme schließlich.
Berelain blinzelte überrascht, aber keiner lachte. Es war das Gerede von Narren, aber Perrin glaubte, dass sich das Haar in seinem Nacken nun wirklich sträubte. Hier war definitiv etwas faul. Die Aes Sedai schienen es nicht zu spüren. Andererseits konnten Aes Sedai hinter diesen glatten Masken kühler Gelassenheit alles verbergen. Die Perlen in Annouras dünnen Zöpfen klirrten leise, als sie den Kopf schüttelte. Masuri musterte die Männer auf der Mauer mit eiskaltem Blick.
»Wenn ich beweisen muss, dass ich am Leben bin, werdet ihr es bereuen«, verkündete Seonid lautstark in ihrem scharfen, cairhienischen Akzent etwas heißblütiger, als ihr Gesicht erahnen ließ. »Und wenn ihr weiterhin diese Armbrüste auf mich richtet, werdet ihr das noch mehr bereuen.« Mehrere Männer hoben hastig ihre Armbrüste und richteten sie gen Himmel. Aber nicht alle.
Erneut wurde oben auf der Mauer geflüstert, aber jemand musste die Aes Sedai erkannt haben. Schließlich schwangen die Tore auf den massiven, rostigen Angeln auf. Ein würgender Gestank wallte aus der Stadt, der Gestank, den Perrin gerochen hatte, nur noch viel stärker jetzt. Alter Unrat und alter Schweiß, verfaulender Müll und Nachttöpfe, die zu lange nicht geleert worden waren. Perrins Ohren wollten sich an seinen Kopf anlegen. Gallenne hob den roten Helm ein Stück, als wollte er ihn wieder aufsetzen, bevor er seinen Braunen durch das Tor trieb. Perrin stieß Steher die Stiefel in die Flanken, um ihm zu folgen, und lockerte die Axt in ihrer Gürtelschleife.
Im Torbogen stieß ein verdreckter Mann in einem zerrissenen Mantel einen Finger gegen Perrins Bein und schoss zurück, als Steher nach ihm schnappte. Der Bursche war mal fett gewesen, aber der Mantel hing lose an seiner Gestalt. »Wollte nur sichergehen«, murmelte er und kratzte sich abwesend die Seite. »Mein Lord«, fügte er etwas zu spät hinzu. Sein Blick schien sich zum ersten Mal auf Perrins Gesicht zu konzentrieren, und seine kratzenden Finger erstarrten. Goldgelbe Augen waren schließlich kein gewöhnlicher Anblick.
»Seht Ihr viele Tote, die reiten?«, fragte Perrin trocken und versuchte es als Witz erscheinen zu lassen, während er den Hals des Braunen tätschelte. Ein ausgebildetes Streitross wollte belohnt werden, wenn es seinen Reiter beschützte.
Der Bursche zuckte zusammen, als hätte das Pferd schon wieder die Zähne gebleckt; sein Mund verzerrte sich zu einem starren Grinsen, und er wich seitlich fort. Bis er gegen Berelains Stute stieß. Gallenne war direkt hinter ihr, erwog noch immer, den Helm aufzusetzen, und versuchte mit seinem einen Auge in sechs Richtungen gleichzeitig zu sehen.
»Wo kann ich Euren Lord oder Eure Lady finden?«, verlangte Berelain ungeduldig zu wissen. Mayene war eine kleine Nation, aber sie war nicht daran gewöhnt, ignoriert zu werden. »Sonst scheint hier jeder stumm geworden zu sein, aber Euch habe ich sprechen gehört. Also, Mann? Redet schon.«
Der Bursche starrte zu ihr hoch und leckte sich über die Lippen. »Lord Cowlin... Lord Cowlin ist... er ist nicht da, meine Lady.« Sein Blick huschte zu Perrin herüber, dann senkte er ihn wieder. »Die Kornhändler... Mit denen müsst Ihr sprechen. Sie sind immer in der Goldenen Barke zu finden. Hier entlang.« Er zeigte vage in Richtung Stadtmitte, dann lief er plötzlich los und schaute dabei über die Schulter, als befürchtete er, verfolgt zu werden.
»Ich glaube, wir sollten uns einen anderen Ort suchen«, sagte Perrin. Dieser Kerl hatte vor mehr als gelben Augen Angst gehabt. Dieser Ort fühlte sich... aus dem Gleichgewicht gebracht an.
»Jetzt sind wir hier, und es gibt keine andere Stadt«, erwiderte Berelain in einem ausgesprochen nüchternen Tonfall. Bei dem vorherrschenden Gestank konnte er ihren Geruch nicht wahrnehmen; er würde sich nach dem richten müssen, was er sah und hörte, und ihr Gesicht war reglos genug für eine Aes Sedai. »Ich bin schon in Städten gewesen, die schlimmer rochen, Perrin. Davon bin ich überzeugt. Und wenn dieser Lord Cowlin fort ist, wird es nicht das erste Mal sein, dass ich es mit Kaufleuten zu tun habe. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass sie wandelnde Tote sehen, oder?« Was sollte ein Mann dazu schon sagen, ohne wie ein völliger Wollkopf zu klingen?
Die anderen drängten sich bereits durch das Tor, wenn auch nicht länger in geordneterer Formation. Wynter und Alharra rahmten Seonid wie nicht zueinander passende Wachhunde ein, der eine hell, der andere dunkel, und beide bereit, aufgrund eines Blinzelns Kehlen auszureißen. Sie spürten jedenfalls genau, was mit So Habor war. Kirklin, der neben Masuri ritt, schien nicht bereit zu sein, das Blinzeln abzuwarten; seine Hand ruhte auf dem Schwertgriff. Kireyin hielt sich die Nase, und ein Funkeln in seinen Augen sagte, dass jemand dafür bezahlen würde, dass er das riechen musste. Auch Medore und Latian sahen aus, als sei ihnen übel, aber Balwer sah sich lediglich um und zog die beiden dann in eine schmale Gasse hinein, die nach Norden führte. Wie Berelain gesagt hatte, nun waren sie schon hier.
Die farbenprächtigen Banner sahen entschieden fehl am Platz aus, als Perrin durch die engen, gewundenen Straßen der Stadt ritt. Tatsächlich waren einige Straßen sogar recht breit für die Größe von So Habor, aber sie machten einen engen Eindruck, so als würden die steinernen Gebäude zu beiden Seiten irgendwie höher aufragen als ihre zwei oder drei Stockwerke und gleich über ihm zusammenbrechen. Die Vorstellungskraft ließ die Straßen auch düster erscheinen. Der Himmel war nicht so grau. Die schmutzigen Straßen waren voller Menschen, aber es waren nicht genug, wenn man bedachte, dass alle Höfe der Umgebung verlassen dalagen, und jeder eilte mit gesenktem Kopf daher. Sie eilten nicht mit einem Ziel im Sinn daher; sie eilten nur fort. Niemand sah den anderen an. Obwohl der Fluss vor ihrer Schwelle lag, hatten auch sie vergessen, wie man sich wusch. Perrin konnte nicht ein Gesicht entdecken, das keine dicke Dreckschicht bedeckte, oder ein Kleidungsstück, das nicht so aussah, als wäre es nicht schon seit Wochen getragen. Je tiefer sie in die Stadt vorstießen, desto schlimmer wurde der Gestank. Vermutlich konnte man sich mit der Zeit wirklich an alles gewöhnen. Aber das Schlimmste war die Stille. Dörfer waren manchmal still, wenn auch nicht so still wie Wälder, aber in einer Stadt gab es immer irgendwelchen Lärm, die Laute von feilschenden Geschäftsleuten und Menschen, die ihr Leben lebten. So Habor flüsterte nicht einmal. Es schien kaum zu atmen.
Bessere Wegbeschreibungen zu bekommen erwies sich als schwierig, da die meisten Leute wegliefen, wenn man sie ansprach, aber schließlich stiegen sie vor einem geschäftig aussehenden Gasthaus aus den Sätteln, drei Stockwerke aus grauem Stein mit einem Schieferdach, dessen Schild eine Goldene Barke zeigte. Die Schrift auf dem Schild war sogar vergoldet, und der Kornberg auf der Barke war unbedeckt, so als wäre er nicht zum Verkauf bestimmt. Auf dem Stallhof neben dem Gasthaus ließen sich keine Stallknechte blicken, also mussten die Bannermänner als Zügelhalter dienen, eine Aufgabe, die sie nicht glücklich machte. Tod wandte dem vorbeieilenden Strom verdreckter Gestalten so viel Aufmerksamkeit zu und tätschelte dabei den Griff seines Kurzschwerts, dass Steher beinahe ein paar seiner Finger erwischte, als er die Zügel des Hengstes nahm. Der Mayener und der Ghealdaner schienen sich zu wünschen, Lanzen statt der Banner zu haben. Flann sah einfach nur aufgeregt aus. Trotz der Morgensonne schien das Licht... voller Schatten zu sein. Das Betreten des Hauses machte die Dinge nicht besser.
Auf den ersten Blick bezeugte der Gemeinschaftsraum die Geschäftigkeit des Gasthauses; unter einer hohen, mit soliden Balken versehenen Decke standen polierte runde Tische und vernünftige Stühle statt Bänke. Die Wände waren mit Feldern voller Gerste, Hirse und Hafer bemalt, die unter einer strahlenden Sonne reiften, und auf dem mit Schnitzereien verzierten Sims eines großen Kamins aus weißem Stein stand eine bunt lackierte Uhr. Aber der Kamin war kalt, die Luft war fast so eisig wie draußen. Die Uhr stand. Überall lag eine Staubschicht. Die einzigen Leute im Raum waren sechs Männer und fünf Frauen, die sich an einem ovalen Tisch, der in der Mitte des Raums stand, über ihre Getränke beugten.