Egeanin starrte Mat weiter an. Oder vielmehr durch ihn hindurch. Dann schaute sie Domon an, ihre Schultern sackten ein Stück nach unten, und sie riss den Umhang von seinem Haken an der Wand. »Bewegt Euch, Cauthon«, knurrte sie. »Wenn es getan werden muss, dann bringen wir es besser hinter uns.« Sie hatte den Wagen blitzartig verlassen, und Mat musste sich beeilen, um sie einzuholen. Man hätte beinahe denken können, sie wollte nicht mit Domon allein sein, so wenig Sinn das auch ergab.
Vor dem fensterlosen purpurnen Wagen, der in der Nacht schwarz war, wich ein Schatten in tiefere Schatten zurück. Die Mondsichel glitt lange genug hinter den Wolken hervor, dass Mat Harnans quadratischen Kiefer erkennen konnte.
»Alles ruhig, mein Lord«, sagte Harnan.
Mat nickte und holte tief Luft, dann tastete er nach dem Beutel in seiner Tasche. Die Luft war sauber und vom Regen gewaschen, und der Wagen stand ein Stück weit weg von den Pferdeseilen. Tuon musste erleichtert sein, von dem Gestank des Pferdemists und dem scharfen Geruch der Tierkäfige weg zu sein. Die Artistenwagen zu seiner Linken waren so dunkel wie die mit Segeltuchplanen bedeckten Frachtwagen zu seiner Rechten. Sinnlos, noch länger zu warten. Er stieß Egeanin die Wagenstufen vor sich hoch.
Drinnen waren mehr Leute, als er erwartet hatte. Setalle saß auf einem der Betten und arbeitete wieder an ihrem Stickrahmen, und Selucia stand am anderen Ende und runzelte unter dem Kopftuch die Stirn, aber Noal saß auf dem anderen Bett, scheinbar gedankenversunken, und Tuon saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und spielte mit Olver Schlangen und Füchse.
Als Mat eintrat, drehte sich der Junge mit einem breiten Grinsen um, das beinahe sein Gesicht zu spalten drohte.
»Noal hat uns von Co'dansin erzählt, Mat«, rief er aus.
»Das ist ein anderer Name für Shara. Wusstest du, dass sich die Ayyad das Gesicht tätowieren? So nennen sie in Shara Frauen, die die Macht lenken können.«
»Nein, das wusste ich nicht«, sagte Mat und schaute Noal grimmig an. Es war schlimm genug, dass Vanin und die Rotwaffen dem Jungen schlechte Angewohnheiten beibrachten, ganz zu schweigen von dem, was er von Juilin und Thom aufschnappte, da musste Noal ihm nicht auch noch den Kopf mit irgendwelchem Unsinn füllen.
Plötzlich schlug sich Noal auf die Schenkel und setzte sich kerzengerade auf. »Es ist mir wieder eingefallen«, sagte er, und dann fing der Narr an zu rezitieren.
»Das Glück reitet wie die Sonne ganz oben mit dem Fuchs, der den Raben fliegen lässt. Glück ist seine Seele, der Blitz sein Auge, Er reißt die Monde vom Himmel herunter.«
Der alte Mann mit der gebrochenen Nase schaute sich um, als wäre ihm gerade erst eingefallen, dass noch mehr Leute anwesend waren. »Ich habe lange versucht, mich wieder daran zu erinnern. Es stammt aus den Prophezeiungen des Drachen.«
»Sehr interessant, Noal«, murmelte Mat. Die Farben wirbelten wieder durch seinen Kopf wie an dem Morgen, als die Aes Sedai in Panik geraten waren. Diesmal blitzten sie vorüber, ohne sich zu einem Bild zusammenzusetzen, aber er fühlte sich kalt, als hätte er nackt unter einem Busch geschlafen. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass ihn jemand mit den Prophezeiungen in Verbindung brachte. »Vielleicht könnt Ihr uns einmal die ganze Geschichte vortragen. Aber nicht heute Nacht, ja?«
Tuon schaute durch die Wimpern zu ihm hoch, eine schwarze Porzellanpuppe in einem Kleid, das ihr zu groß war. Beim Licht, hatte sie lange Wimpern. Sie ignorierte Egeanin, als würde die andere Frau nicht existieren, und tatsächlich bemühte sich Egeanin nach besten Kräften, zu einem Teil der in der Wand eingebauten Kommode zu werden. So viel zu der Hoffnung mit dem Ablenkungsmanöver.
»Das Spielzeug will nicht unhöflich sein«, murmelte Tuon mit ihrem langsamen, honigsüßen Akzent. »Man hat ihm nur nie Manieren beigebracht. Aber es ist spät, Meister Charin; Zeit, dass Olver ins Bett kommt. Bringt Ihr ihn zu seinem Zelt? Wir spielen ein anderes Mal weiter, Olver. Würde es dir gefallen, wenn ich dir beibringe, wie man Steine spielt?«
Und ob das Olver gefiel. Er hüpfte beinahe im Sitzen auf und ab, als er das sagte. Dem Jungen gefiel alles, das ihm Gelegenheit bot, eine Frau anzulächeln, ganz zu schweigen davon, Dinge zu sagen, die ihm eigentlich so viele Ohrfeigen hätten einbringen sollen, dass seine Ohren zur doppelten Größe anschwollen. Falls Mat je herausfand, welcher seiner »Onkel« ihm das beibrachte... Aber der Junge sammelte die Spielsteine ein und rollte das mit Linien bemalte Tuch zusammen, ohne ein zweites Mal darum gebeten zu werden. Er machte sogar eine artige Verbeugung und bedankte sich bei der Hochlady, bevor er sich von Noal aus dem Wagen führen ließ. Mat nickte anerkennend. Er hatte dem Jungen beigebracht, wie man eine Verbeugung machte, aber für gewöhnlich fügte der Junge bei einer hübschen Frau noch ein anzügliches Grinsen hinzu. Falls er je herausfand, wer...
»Gibt es einen Grund, warum Ihr mich stört, Spielzeug?«, fragte Tuon kühl. »Es ist spät, und ich wollte mich eigentlich schlafen legen.«
Er machte eine Verbeugung und schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln. Er konnte höflich sein, auch wenn sie es nicht war. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Euch gut geht. Diese Wagen sind unbequem, und ich weiß, dass Ihr nicht glücklich über die Kleider seid, die ich Euch besorgen konnte. Ich dachte, dass Ihr Euch hiermit vielleicht besser fühlt.« Er fischte den Lederbeutel aus der Tasche und präsentierte ihn schwungvoll. Für gewöhnlich gefiel Frauen das Schwungvolle.
Selucia spannte den ganzen Körper an, sie kniff die blauen Augen zusammen, aber Tuon wackelte mit den schlanken Fingern, und die vollbusige Zofe beruhigte sich wieder. Jedenfalls etwas. Im Großen und Ganzen mochte Mat lebhafte Frauen, aber wenn sie das hier ruinierte, würde er ihr den Hintern versohlen. Er hielt mühsam das Lächeln aufrecht und schaffte es sogar, es noch stärker strahlen zu lassen.
Tuon drehte den Beutel mehrere Male in ihren Händen, bevor sie die Schnur löste und den Inhalt in ihren Schoß schüttete, eine schwere Kette aus Gold und geschnitztem Bernstein. Ein teures Stück, und dann auch noch eine seanchanische Handarbeit. Er war stolz, diese Kette gefunden zu haben. Sie hatte einer der Akrobatinnen gehört, die sie von einem seanchanischen Offizier bekommen hatte, aber da ihr Verehrer nun zurückgeblieben war, war sie bereit gewesen, sie zu verkaufen. Sie passte nicht zu ihrer Haut, was auch immer das zu bedeuten hatte. Er lächelte und wartete. Schmuck erweichte immer das Herz von Frauen.
Aber keine zeigte die erwartete Reaktion. Tuon hob die Kette mit beiden Händen hoch und studierte sie, als hätte sie so etwas noch nie zuvor gesehen. Selucias Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. Setalle ließ ihre Stickarbeit auf die Knie sinken und sah ihn an; die großen goldenen Ohrringe schaukelten, als sie den Kopf schüttelte.
Plötzlich hielt Tuon die Kette über die Schulter Selucia entgegen. »Sie passt nicht zu mir«, sagte sie. »Würde sie dir gefallen, Selucia?« Mats Lächeln verrutschte etwas.
Die Frau mit der hellen Haut nahm die Kette zwischen Daumen und Zeigefinger, so als würde sie eine tote Ratte am Schwanz halten. »Ein Schmuckstück für eine Shea-Tänzerin, das sie zu ihrem Schleier tragen könnte«, meinte sie trocken. Sie ließ das Handgelenk vorschnellen und warf die Kette Egeanin zu. »Legt sie an«, fauchte sie. Egeanin fing das Schmuckstück gerade noch rechtzeitig auf, bevor es sie mitten ins Gesicht traf. Mats Lächeln verblasste endgültig.
Er rechnete mit dem Schlimmsten, aber Egeanin fummelte sofort den Verschluss auf und schob die schwere schwarze Perücke zurück, um sie im Nacken zu verschließen. Ihr Gesicht hätte genauso gut aus Schnee modelliert sein können, so ausdruckslos war es.
»Dreht Euch«, befahl Selucia, und es war ein Befehl, ohne jeden Zweifel. »Lasst mich sehen.«
Egeanin drehte sich. So steif wie ein Zaunpfosten, aber sie drehte sich.
Setalle sah sie intensiv und mit einem verblüfften Kopfschütteln an, dann bedachte sie Mat mit einem anderen Kopfschütteln, bevor sie sich wieder ihrer Stickarbeit widmete. Frauen konnten den Kopf auf so viele Arten schütteln, wie sie Mienen parat hatten. Die hier besagte, dass er ein Narr war, und wenn er die feineren Nuancen nicht mitbekam, war das gut so. Er glaubte kaum, dass sie ihm gefallen hätten. Sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, da kaufte er Tuon eine Kette, die sie vor seinen Augen Selucia gab, und jetzt gehörte sie Egeanin?