»Wie Ihr befiehlt«, erwiderte Lelaine, was alles bedeuten konnte. Was nun folgte, war da schon genauer. »Gelegentlich macht die Weiße Burg Fehler. Man kann nicht leben, ohne Fehler zu machen. Aber wir leben, und wir machen weiter. Und wenn wir unsere Fehler auch manchmal verbergen müssen, wenn möglich korrigieren wir sie. Selbst wenn es schmerzhaft ist.« Sie stellte ihre Tasse zurück aufs Tablett und ging zusammen mit Maigan. Maigan umarmte die Quelle, bevor sie das Zelt verließ. Lelaine tat es nicht.
Eine Zeit lang konzentrierte sich Egwene darauf, ihre Atmung ruhig zu halten. Sie führte den von den Ufern gehaltenen Fluss durch. Lelaine hatte nicht direkt gesagt, dass Egwene al'Vere als Amyrlin ein Fehler war, der korrigiert werden musste, aber sie war nahe dran gewesen.
Mittags brachte Chesa Egwenes Essen auf einem weiteren Tablett, warmes knuspriges Brot mit nur einem oder zwei verdächtigen dunklen Flecken und Eintopf aus zähen Streckrüben und hölzernen Möhren mit Stücken von etwas, das möglicherweise Ziege war. Egwene bekam nur einen Löffel davon herunter. Es lag nicht daran, dass Lelaine ihr Sorgen machte. Lelaine hatte sie schon zuvor bedroht, wenn auch nicht mehr, seit sie klargemacht hatte, dass sie die Amyrlin war und keine Marionette. Statt zu essen, starrte sie Tianas Bericht an, der auf dem Tisch lag. Möglicherweise hätte Nicola die Stola trotz ihres Potenzials nicht errungen, aber die Burg hatte eine lange Erfahrung darin, sture, fehlerbehaftete Frauen in selbstbewusste Aes Sedai zu verwandeln. Larine hatte eine glänzende Zukunft vor sich, aber sie musste lernen, die Regeln zu befolgen, bevor sie dann lernen konnte, welche davon gebrochen werden konnten und unter welchen Umständen. Die Weiße Burg war gut darin, beides zu lehren, aber zuerst kam immer der Gehorsam. Bodes Zukunft war viel versprechend. Ihr Potenzial reichte beinahe an das von Egwene heran. Aber ob Aes Sedai, Aufgenommene oder Novizin, die Burg verlangte von einem, das zu tun, was für die Burg wichtig war. Aes Sedai, Aufgenommene, Novizin oder Amyrlin.
Chesa zeigte sich sichtlich enttäuscht, als sie zurückkehrte und den Eintopf so gut wie unberührt vorfand, vor allem, da sie ein fast unberührtes Frühstück vorgefunden hatte. Egwene zog in Betracht, Magenschmerzen vorzugeben, verwarf es dann aber. Nachdem Chesas Tee ihr bei den Kopfschmerzen geholfen hatte — zumindest ein paar Tage lang, bis sie schlimmer als je zuvor zurückgekehrt waren und das jede Nacht —, hatte sich herausgestellt, dass die pummelige Frau eine Sammlung von Heilkräutern für jegliche Beschwerden hatte, die sie jedem Marketender mit geschicktem Mundwerk abkaufte und von denen jede widerlicher schmeckte als die vorherige. Sie hatte so eine Art, so betrübt auszusehen, wenn man die furchtbaren Mixturen nicht trank, dass man sie doch tatsächlich schluckte, nur damit sie sich keine Sorgen machte. Manchmal halfen sie sogar überraschenderweise, aber sie waren niemals etwas, das Egwene herunterschlucken wollte. Sie schickte Chesa mit dem Tablett fort und versprach, später etwas zu essen. Zweifellos würde Chesa ein Abendessen auftischen, das groß genug war, um damit eine Gans zu mästen.
Der Gedanke wollte sie eigentlich lächeln lassen — Chesa würde hinter ihr stehen und die Hände ringen, bis sie jeden Bissen aufaß —, aber ihr Blick fiel wieder auf Tianas Bericht. Nicola, Larine und Bode. Die Weiße Burg war eine strenge Lehrmeisterin. Solange sich die Weiße Burg nicht durch die Mehrheitsentscheidung des Saals im Krieg befand, sollte die Amyrlin nicht... Aber die Burg befand sich im Krieg.
Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie da saß und das Papier mit dem einen Namen anstarrte, aber als Siuan zurückkehrte, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Eine strenge Lehrmeisterin, die niemals jemanden bevorzugte.
»Sind Leane und Bode aufgebrochen?«, fragte sie.
»Vor mindestens zwei Stunden, Mutter. Leane muss Bode abliefern und dann flussabwärts reiten.«
Egwene nickte. »Bitte lasst Daishar satteln...« Nein. Mittlerweile erkannten einige Leute das Pferd der Amyrlin.
Zu viele. Es war keine Zeit dafür da, Argumente auszutauschen und Erklärungen abzugeben. Keine Zeit, ihre Autorität zu beweisen. »Sattelt Bela und wartet an der Ecke zwei Straßen weiter nördlich auf mich.« Auch Bela kannte fast jeder. Siuans Pferd kannte jeder.
»Was wollt Ihr tun, Mutter?«, fragte Siuan besorgt.
»Ich will ausreiten. Und Siuan, sagt es keinem.« Sie begegnete dem Blick der anderen Frau und hielt ihn fest. Siuan war Amyrlin gewesen und hatte einen Stein niederstarren können. Jetzt war Egwene die Amyrlin. »Niemandem, Siuan. Und jetzt geht. Geht. Und beeilt Euch.« Siuan hastete mit noch immer gerunzelter Stirn hinaus.
Sobald Egwene allein war, nahm sie die Stola vom Hals, faltete sie sorgfältig zusammen und verstaute sie in ihrer Gürteltasche. Ihr Umhang war aus guter Wolle, aber unauffällig. Ohne die aus der Kapuze baumelnde Stola hätte sie irgendeine Schwester sein können.
Der Gehsteig vor ihrem Zelt war natürlich leer, aber sobald sie die vereiste Straße überquerte, bahnte sie sich einen Weg durch den üblichen weißen Fluss von Novizinnen, der mit Aufgenommenen und gelegentlich einer Aes Sedai gesprenkelt war. Die Novizinnen beugten vor ihr die Knie, ohne langsamer zu werden, die Aufgenommenen machten Knickse, sobald sie sahen, dass die Röcke unter ihrem Umhang keinen weißen Streifen aufwiesen, und die Aes Sedai rauschten mit von Kapuzen verhüllten Gesichtern vorbei. Falls jemandem auffiel, dass ihr kein Behüter folgte, nun, einige Schwestern hatten keinen Behüter. Und nicht jede wurde vom glühenden Schein Saidars eingehüllt. Nur die meisten.
Zwei Straßen von ihrem Zelt entfernt blieb sie am Rand des Gehsteigs stehen und wandte sich vom Strom der vorbeieilenden Frauen ab. Sie versuchte sich keine Sorgen zu machen. Die Sonne stand auf dem halben Weg zum Horizont im Westen, eine goldene Scheibe, die vom zerklüfteten Gipfel des Drachenbergs aufgespießt wurde. Der Schatten des Berges fiel bereits über das Lager und hüllte die Zelte in abendliches Dämmerlicht.
Endlich kam Siuan auf Bela angeritten. Die zottelige kleine Stute ging sicher auf der glatten Straße, aber Siuan klammerte sich an Zügeln und Sattel fest, als hätte sie Angst herunterzufallen. Vielleicht war es ja tatsächlich so. Siuan war eine der schlechtesten Reiterinnen, die Egwene jemals gesehen hatte. Als sie mit wehenden Röcken und gemurmelten Flüchen aus dem Sattel rutschte, erschien sie so erleichtert, als wäre sie gerade mit dem Leben davongekommen. Bela wieherte, als sie Egwene erkannte. Siuan richtete ihre verrutschte Kapuze und öffnete den Mund, aber Egwene hielt eine warnende Hand hoch, bevor sie sprechen konnte. Sie konnte sehen, wie Siuans Lippen das Wort »Mutter« formten. Und vermutlich wäre es laut genug gewesen, um auch noch in fünfzig Schritten Entfernung gehört zu werden.
»Sagt keinem etwas«, flüsterte Egwene. »Und auch keine Notizen oder Andeutungen.« Das sollte alles abdecken.
»Leistet Chesa Gesellschaft, bis ich zurückkehre. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
Siuan nicke zögernd. Ihre Miene erschien beinahe mürrisch. Egwene vermutete, dass es klug gewesen war, »Notizen« und »Andeutungen« hinzuzufügen. Sie ließ die ehemalige Amyrlin wie ein mürrisches Mädchen dreinschauen und schwang sich anmutig in Belas Sattel.
Aufgrund der gefrorenen Rillen in den Lagerstraßen musste sie die Stute erst im Schritt gehen lassen. Und weil sich jeder wundern würde, wenn er Siuan schneller als im Schritttempo auf Bela reiten sah. Sie versuchte wie Siuan zu reiten, schwankte unsicher hin und her, klammerte sich mit einer Hand am hohen Sattelknauf fest und manchmal auch mit beiden. Es gab ihr das Gefühl, als würde auch sie gleich herunterfallen. Bela verdrehte den Kopf, um sie anzusehen. Sie wusste, wer auf ihrem Rücken saß, und sie wusste, dass Egwene besser reiten konnte. Egwene ahmte weiterhin Siuan nach und versuchte nicht an den Sonnenstand zu denken. Den ganzen Weg aus dem Lager hinaus, an den Wagen vorbei, bis die ersten Bäume sie vor den Zelten und Wagen verbargen.