Er selbst hätte nichts gegen einen dampfenden Becher voller heißem Wein oder sogar auch Tee einzuwenden gehabt. Aber es war lange her, dass Kaufleute Teeblätter nach Arad Doman gebracht hatten. Es war lange her, dass ausländische Kaufleute weiter als bis zur Grenze nach Saldaea gekommen waren. Bis ihn Neuigkeiten aus der weiten Welt erreichten, waren sie so alt wie Brot vom Vormonat, falls sie überhaupt mehr als Gerüchte darstellten. Aber das spielte keine große Rolle. Falls die Weiße Burg tatsächlich gespalten war oder Männer, die über die Eine Macht geboten, wirklieh nach Caemlyn gerufen wurden ... nun, bis in Arad Doman wieder Frieden herrschte, würde die Welt ohne Rodel Ituralde auskommen müssen. Im Augenblick war Arad Doman mehr als genug, als ein geistig gesunder Mann bewältigen konnte.
Er überdachte erneut die Befehle, die er mit den schnellsten Reitern, die ihm zur Verfügung standen, an jeden Adligen gesandt hatte, der loyal zum König stand. So zerstritten sie durch Missgunst und alte Fehden auch waren, zumindest das hatten sie noch gemeinsam. Wenn der Befehl vom Wolf kam, würden sie ihre Heere sammeln und losreiten; zumindest so lange, wie er in der Gunst des Königs stand. Oh, sie würden toben, und einige würden seinen Namen verfluchen, aber sie würden gehorchen. Sie wussten, dass der Wolf Schlachten gewann. Mehr noch, sie wussten, dass er Kriege gewann. Wenn sie ihn außer Hörweite wähnten, nannten sie ihn den Kleinen Wolf, aber es störte ihn nicht, wenn sie auf seine Körpergröße anspielten — jedenfalls nicht sehr —, solange sie ritten, wenn er es befahl.
Sehr bald würden sie hart reiten, um eine Falle zu stellen, die erst in Monaten zuschnappen würde. Er ging ein großes Risiko ein. Komplizierte Pläne konnten auf vielerlei Weise scheitern, und sein Plan war vielschichtig. Wenn es ihm nicht gelang, für den Köder zu sorgen, würde alles fehlgeschlagen sein, bevor es begann. Oder wenn jemand seinen Befehl ignorierte, die Kuriere des Königs zu meiden. Aber sie alle kannten seine Gründe, und selbst die Stursten unter ihnen stimmten mit ihm überein, auch wenn nur wenige von ihnen bereit waren, über die Angelegenheit zu sprechen. Er selbst hatte sich wie ein vom Sturm getriebener Geist bewegt, seit er Alsalams letzten Befehl erhalten hatte. Das zusammengefaltete Stück Papier steckte in seinem Ärmel, unter der weißen Spitze, die über den mit Stahl verstärkten Handschuh fiel. Sie hatten eine letzte Chance, eine sehr kleine Chance, Arad Doman noch zu retten. Vielleicht sogar Alsalam vor sich selbst zu retten, bevor der Rat der Kaufleute den Entschluss fasste, einen anderen Mann an seiner Stelle auf den Thron zu setzen. Er war über zwanzig Jahre lang ein guter Herrscher gewesen. Das Licht mochte dafür sorgen, dass er es wieder sein konnte.
Ein lautes Krachen im Süden ertönte. Ituraldes Hand fuhr zum Griff seines Langschwerts. Leder und Metall quietschten leise, als die anderen ihre Waffen lockerten. Ansonsten herrschte Stille. Der Wald war so still wie eine gefrorene Gruft. Es war nur ein Ast, der unter dem Gewicht des Schnees abgebrochen war. Nach einem Augenblick ließ Ituralde zu, dass er sich wieder entspannte — so sehr er sich entspannen konnte, seit die Geschichten, dass der Wiedergeborene Drache in Falme am Himmel erschienen war, nach Norden vorgedrungen waren. Vielleicht war der Mann wirklich der Wiedergeborene Drache, vielleicht war er tatsächlich am Himmel erschienen, aber was auch immer die Wahrheit war, diese Geschichten hatten Arad Doman in Brand gesetzt.
Ituralde war davon überzeugt, dass er dieses Feuer hätte austreten können, wenn man ihm nur freie Hand gelassen hätte. Das war keine Prahlerei. Er wusste, was er mit einer Schlacht, einem Feldzug oder einem Krieg erreichen konnte. Aber seit der Rat entschieden hatte, dass es besser für den König wäre, wenn man ihn aus Bandar Eban herausschmuggelte, schien Alsalam sich in den Kopf gesetzt zu haben, die Wiedergeburt von Artur Falkenflügel zu sein. Seitdem hatte er seine Unterschrift und sein Siegel unter zahllose Kampfbefehle gesetzt, eine wahre Flut, die aus dem Versteck strömte, wo auch immer ihn der Rat verborgen hatte. Sie wollten niemandem verraten, wo er war, nicht einmal Ituralde. Jede Frau des Rates, die er gefragt hatte, war bei der Erwähnung des Königs ausweichend geworden. Es hatte fast den Anschein, als wüßten sie nicht, wo Alsalam war. Das war natürlich ein lächerlicher Gedanke. Der Rat richtete ein waches Auge auf den König. Ituralde war immer der Meinung gewesen, dass sich die Handelshäuser zu sehr einmischten, und doch wünschte er sich, sie würden jetzt eingreifen. Warum sie die Hände in den Schoß legten, blieb ein Geheimnis, denn ein König, der den Handel schädigte, blieb nie lange auf dem Thron.
Er stand loyal zu seinen Eiden, außerdem war Alsalam ein Freund, aber die Befehle, die der König verfasst hatte, drohten ein Chaos anzurichten. Doch man konnte sie nicht ignorieren. Alsalam war der König. Er hatte Ituralde befohlen, so schnell wie möglich nach Norden gegen eine große Ansammlung von Drachenverschworenen zu marschieren, von der Alsalam angeblich von seinen Spionen erfahren hatte; nach zehn Tagen, als noch immer kein Drachenverschworener in Sicht gekommen war, kam dann der Befehl, wieder mit der größtmöglichen Schnelligkeit nach Süden zu marschieren, gegen eine andere Horde, die nie gefunden wurde. Er hatte den Befehl erhalten, seine Streitkräfte für die Verteidigung Bandar Ebans zu konzentrieren, wo ein Angriff von drei Seiten die Sache ein für allemal entschieden hätte; dann sollte er sie teilen, wo ein Hammerschlag ebenfalls eine Entscheidung herbeigeführt hätte, nur um Boden einzunehmen, von dem er wusste, dass die Drachenverschworenen ihn aufgegeben hatten, und von der Stelle wegzumarschieren, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Was noch viel schlimmer war, Alsalams Befehle waren oft an die mächtigen Adligen gegangen, die Ituralde folgen sollten, und so wurden Machir in die eine Richtung, Teacal in die andere und Rahman in eine dritte geschickt. Viermal war es zu Scharmützeln gekommen, weil Teile des Heeres in der Nacht aufeinandertrafen, während sie auf Befehl des Königs Eilmärsche zurücklegten und nur mit Feinden rechneten. Und die ganze Zeit über nahmen die Drachenverschworenen an Zahl und Zuversicht zu. Ituralde hatte seine Triumphe gehabt — bei Solanje und Maseen, bei dem See von Somal und Kandelmar; die Lords von Katar hatten gel ernt, die Produkte ihrer Minen und Schmieden nicht an die Feinde Arad Domans zu verkaufen —, aber jedes Mal hatten Alsalams Befehle seine Erfolge zunichte gemacht.
Aber dieser letzte Befehl war anders. Zum einen hatte einer der Grauen Männer Lady Tuva ermordet, um zu verhindern, dass er Ituralde erreichte. Warum der Schatten diesen Befehl mehr als jeden anderen fürchtete, blieb ein Geheimnis; aber das war mehr als Grund genug, schnell zu marschieren — bevor ihn der nächste Befehl Alsalams erreichte. Dieser Befehl eröffnete viele Möglichkeiten, und er hatte jede einzelne davon, die ihm in den Sinn gekommen war, in Erwägung gezogen. Aber die guten fingen alle hier an, und zwar heute. Wenn nur noch geringe Erfolgaussichten bestanden, musste man sie ergreifen.
In der Ferne erscholl der schrille Ruf eines Schneevogels, dann ein zweites und ein drittes Mal. Ituralde legte die Hand an den Mund und erwiderte die drei Rufe. Augenblicke später kam ein zottiger, gescheckter Wallach zwischen den Bäumen hervor, sein Reiter trug einen weißen Umhang mit schwarzen Streifen. Reiter und Pferd wären in dem verschneiten Wald kaum zu sehen gewesen, hätten sie sich nicht bewegt. Der Reiter hielt neben Ituralde an. Er war ein stämmiger Mann, der mit einem Kurzschwert bewaffnet war; am Sattel hingen ein Köcher Pfeile und ein Bogen in einem Lederfutteral.
»Sieht so aus, als wären alle gekommen, mein Lord«, sagte er mit seiner ständig heiseren Stimme und schob die Kapuze zurück. Jemand hatte Donjel aufhängen wollen, als er noch jung gewesen war, allerdings war der Grund dafür im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten. Was von seinem kurzgeschnittenen Haar noch übrig war, wies eine eisengraue Farbe auf. Die dunkle Lederklappe, die die leere rechte Augenhöhle verbarg, war ein weiteres Andenken an eine jugendliche Rauferei. Aber ob nur ein Auge oder zwei, er war der beste Kundschafter, der Ituralde jemals begegnet war. »Die meisten jedenfalls«, fuhr er fort. »Sie haben das Schloss mit zwei Wächterketten umgeben, die eine in der anderen. Man kann sie aus einer Meile Entfernung sehen, aber keiner wird sich nähern können, ohne dass die im Schloss es merken und rechtzeitig verschwinden können. Den Spuren nach zu urteilen, haben sie nicht mehr Männer mitgebracht, als Ihr es mir gesagt habt. Natürlich«, fügte er beiläufig hinzu, »seid Ihr ihnen noch immer zahlenmäßig überlegen.«