Die große Flügeltür zum Ballsaal hing nicht mehr in ihren Angeln, allerdings konnte sich Ituralde nur schwerlich vorstellen, dass sie von Banditen geraubt worden war. Der hohe, spitze Torbogen war breit genug, um von zehn Seite an Seite gehenden Männern durchschritten zu werden. In dem fensterlosen ovalen Raum trieben fünfzig Laternen jeder Größe und Art die Schatten zurück, allerdings reichte das Licht kaum bis zur Kuppeldecke. Getrennt von der freien Tanzfläche standen zwei Gruppen von Männern vor den bemalten Wänden, und auch wenn das Weiße Band sie dazu veranlasst hatte, auf die Helme zu verzichten, waren dennoch alle zweihundert oder mehr bewaffnet, keiner hatte auf sein Schwert verzichtet. Auf der einen Seite standen ein paar Lords der Domani — Rajabi, Wakeda, Ankaer —, die genauso mächtig wie Shimron waren, umringt von ihren jeweiligen niederen Gefolgsleute und eidverschworenen freien Männern, sowie ein paar kleine Gruppen, die teilweise nur aus ein oder zwei Personen bestanden und manchmal gar keine Adligen aufwiesen. Die Drachenverschworenen hatten Räte, aber keinen übergeordneten Befehlshaber. Dennoch war jeder dieser Männer ein Anführer, ihr Gefolge bestand aus Dutzenden und bei einigen sogar aus Tausenden. Keiner schien glücklich zu sein, dass er hier war, und ein paar warfen finstere Blicke durch den Raum zu der Stelle, an der fünfzig oder sechzig Taraboner dicht beieinander standen, die genauso grimmig zurückschauten. Sie mochten alle Drachenverschworene sein, aber zwischen Domani und Tarabonern herrschte keine Freundschaft. Beinahe hätte Ituralde beim Anblick der Ausländer gelächelt. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass auch nur die Hälfte von ihnen heute erscheinen würde.
»Lord Rodel Ituralde kommt im Zeichen des Weißen Bandes.« Shimrons Stimme hallte durch die von Laternenlicht geschaffenen Schatten. »Soll der, der Gewalt im Sinn hat, sein Herz erforschen und an seine Seele denken.« Und das war das Ende der Förmlichkeiten.
»Warum bietet Lord Ituralde das Weiße Band an?«, verlangte Wakeda zu wissen, der die eine Hand an dem Langschwert an seiner Seite und die andere zur Faust geballt hatte. Er war kein großer Mann, wenn auch größer als Ituralde, und so hochmütig, als würde er auf dem Thron sitzen. Einst hatten ihn die Frauen als attraktiv beschrieben. Jetzt bedeckte ein schräg gebundenes schwarzes Tuch die leere rechte Augenhöhle, und sein Schönheitsfleck war eine schwarze Pfeilspitze, die auf eine dicke, von der Wange zur Stirn verlaufende Narbe zeigte. »Will er sich uns anschließen? Oder uns bitten, sich zu ergeben? Alle wissen, dass der Wolf so mutig wie durchtrieben ist. Ist er so mutig?« In die Männer auf seiner Seite des Raums kam Unruhe; zum Teil war es Heiterkeit, zum Teil aber auch Wut.
Ituralde verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um nicht an dem Rubin in seinem linken Ohrläppchen herumzufummeln. Es war weithin als Zeichen dafür bekannt, dass er wütend war, und manchmal tat er es auch absichtlich, aber jetzt musste er eine ruhige Miene zur Schau stellen. Selbst wenn der Mann an seinem Ohr vorbei sprach! Nein. Ruhe. Duelle entstanden aus Zorn, aber er war hier, um ein Duell auszufechten, und dazu brauchte er Ruhe. Worte konnten tödlichere Waffen als Schwerter sein.
»Jeder Mann hier weiß, dass wir im Süden einen weiteren Feind haben«, sagte er mit ruhiger Stimme.
»Die Seanchaner haben Tarabon geschluckt.« Er schaute zu den Tarabonern hinüber und sah sich mit ausdruckslosen Blicken konfrontiert. Er hatte noch nie in den Gesichtern von Tarabonern lesen können. Anstelle dieser lächerlichen Schnurrbärte, die wie haarige Stoßzähne waren — schlimmer noch als die Saldaeaner! —, und den albernen Gesichtsschleiern hätten sie genauso gut Masken tragen können, und das armselige Licht der Laternen war auch keine Hilfe. Aber er hatte sie auch schon gesehen, wenn sie sich mit Rüstungen verschleierten, und er brauchte sie. »Sie sind auf die Ebene von Almoth geströmt und bewegen sich weiter nach Norden. Ihr Ziel ist klar. Sie wollen auch Arad Doman unterwerfen. Ich fürchte, sie wollen die ganze Welt.«
»Will Lord Ituralde wissen, wen wir unterstützen, falls diese Seanchaner bei uns einfallen?«, fragte Wakeda.
»Ich glaube fest daran, dass Ihr für Arad Doman kämpfen werdet, Lord Wakeda«, sagte Ituralde sanft.
Wakeda lief purpurrot an, als er die offene Beleidigung hörte, und seine Eidmänner griffen nach den Schwertern.
»Flüchtlinge haben berichtet, dass Aiel auf der Ebene sind«, warf Shimron schnell ein, als fürchtete er, Wakeda könnte das Weiße Band zerreißen. Keiner von Wakedas Eidmännern würde blankziehen, bevor er es tat oder es befahl. »Den Berichten zufolge kämpfen sie für den Wiedergeborenen Drachen. Er muss sie geschickt haben, vielleicht um uns beizustehen. Niemand hat je ein Heer der Aiel besiegt, nicht einmal Artur Falkenflügel. Lord Ituralde, erinnert Ihr Euch an den Blutigen Schnee, als wir noch jünger waren? Ihr stimmt gewiss mit mir darin überein, dass wir sie dort nicht besiegt haben, was auch immer in den Überlieferungen steht, und ich kann nicht glauben, dass die Seanchaner über die Zahl an Männern verfügen, die wir damals hatten. Ich selbst habe gehört, dass sich die Seanchaner nach Süden bewegen, von der Grenze fort. Nein, ich vermute, dass wir als Nächstes hören werden, dass sie sich von der Ebene zurückziehen und nicht auf uns zurücken.« Im Feld war er kein schlechter Befehlshaber, aber er war schon immer ein Pedant gewesen.
Ituralde lächelte. Aus dem Süden kamen die Nachrichten schneller als von überall anders, aber er hatte befürchtet, die Aiel selbst zur Sprache bringen zu müssen, und sie hätten vielleicht geglaubt, er wollte sie hintergehen. Er konnte es selbst kaum glauben. Aiel auf der Ebene von Almoth. Er sparte sich den Hinweis, dass Aiel, die geschickt worden waren, um den Drachenverschworenen zu helfen, wahrscheinlich direkt in Arad Doman erschienen wären. »Auch ich habe mit Flüchtlingen gesprochen, und sie erzählen von Überfällen der Aiel, nicht von Heeren. Was auch immer die Aiel auf der Ebene tun, es hat den Vormarsch der Seanchaner vielleicht verlangsamt, aber es hat sie nicht zurückgedrängt. Ihre fliegenden Bestien kundschaften unsere Seite der Grenze aus. Das klingt nicht nach Rückzug.«
Mit einer energischen Bewegung zog er das Papier aus dem Ärmel und hielt es in die Höhe, sodass alle das in grünes und blaues Wachs eingedrückte Siegel mit Schwert und Hand sehen konnten. Wie immer in letzter Zeit hatte er das königliche Siegel auf der einen Seite mit einer heißen Klinge vom Papier gelöst, um es intakt zu lassen, damit er es denen ungebrochen vorlegen konnte, die mögliche Zweifel hatten. Und von denen gab es eine ganze Menge, nachdem sie Alsalams Befehle vernommen hatten. »König Alsalam hat mir den Befehl gegeben, so viele Männer zu nehmen, wie ich zusammenbekomme, ganz egal woher, und die Seanchaner so hart anzugreifen, wie ich kann.« Er holte tief Luft. Hier ging er ein weiteres Wagnis ein, und Alsalam würde möglicherweise seinen Kopf auf den Richtblock schicken, wenn der Würfel nicht auf die gewünschte Seite fiel. »Ich biete einen Waffenstillstand an. Ich schwöre im Namen des Königs, gegen keinen von Euch ins Feld zu ziehen, solange die Seanchaner Arad Doman bedrohen, falls Ihr alle den gleichen Schwur leistet und an meiner Seite kämpft, bis sie zurückgeschlagen sind.«
Verblüfftes Schweigen antwortete ihm. Der stier nackige Rajabi schien vom Schlag getroffen zu sein.
Wakeda kaute wie ein erschrockenes Mädchen auf der Unterlippe herum.
Dann murmelte Shimron: »Können sie zurückgeschlagen werden, Lord Ituralde? Ich habe auf der Ebene von Almoth ihren angeketteten ... Aes Sedai gegenübergestanden, genau wie Ihr auch.« Stiefel knirschten, als Männer mit den Füßen scharrten, Gesichter verdunkelten sich vor hilflosem Zorn. Keinem Mann gefiel die Vorstellung, einem Feind hilflos gegenüberzustehen, aber viele von ihnen hatten in den frühen Tagen an der Seite von Ituralde und Shimron gekämpft, um zu wissen, wie dieser Feind war.
»Sie können besiegt werden, Lord Shimron«, erwiderte Ituralde, »selbst mit ihren ... kleinen Überraschungen.« Schon seltsam, es so zu bezeichnen, wenn der Boden unter den Füßen in die Höhe geschleudert wurde und Kundschafter etwas ritten, das wie Schattengezücht aussah, aber er musste so sicher klingen, wie er aussah. Davon abgesehen passte man sich an, wenn man wusste, wozu der Feind imstande war. Das war eine Faustregel des Kriegshandwerks, und zwar schon lange, bevor die Seancha ner aufgetaucht waren. Dunkelheit verschaffte den Seanchanern Vorteile, genau wie Stürme, und ein Wetterdeuter konnte einem immer sagen, wann ein Sturm heraufzog. »Ein kluger Mann hört auf zu kauen, wenn er auf den Knochen stößt«, fuhr er fort, »aber bis jetzt haben die Seanchaner ihr Fleisch in dünnen Scheiben abgeschnitten, bevor sie danach griffen. Ich habe vor, ihnen einen knorrigen Unterschenkel zu geben, an dem sie herumkauen können. Mehr noch, ich habe einen Plan, der sie so schnell zuschnappen lassen wird, dass sie sich die Zähne an dem Knochen ausbeißen werden, bevor sie überhaupt einen Bissen Fleisch bekommen. Nun, ich habe meinen Schwur geleistet. Was ist mit Euch?«