Als Darcy ihn zur Tür begleitete, wurde ihr klar, dass sie zum ersten Mal, seit sie in der Garage gegen den Karton gestoßen war, wieder das Gefühl hatte, auf der richtigen Seite des Spiegels zu sein. Es war gut zu wissen, dass er gefasst worden wäre. Dass er nicht so überragend clever gewesen war, wie er geglaubt hatte.
»Danke für Ihren Besuch«, sagte sie, während er seinen Homburg penibel gerade aufsetzte. Sie öffnete die Tür, und ein Schwall kalter Luft wehte herein. Aber das störte sie nicht. Die Kälte auf ihrer Haut fühlte sich gut an. »Sehen wir uns wieder?«
»Nein. Nächste Woche ist für mich Schluss. Voll im Ruhestand. Ziehe nach Florida. Allerdings nicht für lange, sagt mein Arzt.«
»Tut mir leid, das zu …«
Er zog sie plötzlich in die Arme. Sie waren dünn, aber sehnig und überraschend stark. Darcy war überrascht, aber nicht erschrocken. Die Krempe seines Homburgs drückte gegen ihre Schläfe, als er ihr ins Ohr flüsterte. »Sie haben das Rechte getan.«
Und sie auf die Wange küsste.
20
Er ging langsam und vorsichtig den Weg entlang und achtete auf die Eisplatten. So bewegte sich ein alter Mann. Er sollte wirklich einen Stock benutzen, dachte Darcy. Er ging vorn um den Wagen herum, weiter mit gesenktem Kopf, um aufs Eis zu achten, als sie seinen Namen rief. Er drehte sich halb nach ihr um und zog die Augenbrauen hoch.
»Als Junge hatte mein Mann einen Freund, der dann tödlich verunglückt ist.«
»Tatsächlich?« Das Wort wurde mit einer dampfenden Atemwolke ausgestoßen.
»Ja«, sagte Darcy. »Sie könnten nachlesen, was damals passiert ist. Ein tragischer Unfall, obwohl er nach Aussage meines Mannes kein sehr netter Junge war.«
»Nein?«
»Nein. Er war einer dieser Jungen, die gefährlichen Phantasien nachhängen. Sein Name war Brian Delahanty, aber Bob hat ihn immer nur BD - Beadie - genannt.«
Ramsey blieb einige Sekunden lang neben seinem Wagen stehen und schien zu überlegen. Dann nickte er. »Das ist sehr interessant. Vielleicht sehe ich mir die Berichte darüber auf dem Computer an. Oder vielleicht auch nicht; schließlich liegt alles lange zurück. Danke für den Kaffee.«
»Danke für das Gespräch.«
Sie beobachtete, wie er die Straße entlang davonfuhr (er fuhr mit dem Selbstbewusstsein eines weit jüngeren Mannes, fiel ihr auf - vielleicht weil er noch so scharfe Augen hatte), dann ging sie wieder hinein. Sie fühlte sich jünger, leichter. Als sie vor den Spiegel in der Diele trat, sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild, und das war gut.
NACHWORT
Die Storys in diesem Band sind hart. Vielleicht ist es Ihnen teilweise schwergefallen, sie zu lesen. Dann seien Sie versichert, dass es mir stellenweise ebenso schwergefallen ist, sie zu schreiben. Wenn Leute mich nach meiner Arbeit fragen, habe ich mir angewöhnt, dieses Thema mit Scherzen und humorvollen persönlichen Anekdoten (die Sie nicht unbedingt glauben dürfen; glauben Sie nie, was ein Romanautor über seine Vergangenheit erzählt) zu umgehen. Das ist eine Form der Ablenkung und etwas höflicher als die Antwort, die meine Yankee-Vorfahren vermutlich auf solche Fragen gegeben hätten: Das geht dich nichts an, Freundchen. Aber unterhalb der Scherze nehme ich meine Arbeit sehr ernst - wie schon immer, seit ich mit achtzehn Jahren als Erstsemester an der University of Maine mit The Long Walk meinen ersten Roman geschrieben habe.
Ich habe wenig Geduld mit Schriftstellern, die ihre Arbeit nicht ernst nehmen, und gar keine mit denen, die die Kunst der erzählenden Literatur im Prinzip für ausgepowert halten. Sie ist nicht abgenutzt, und sie ist auch kein literarisches Spiel. Sie gehört zu den entscheidend wichtigen Methoden, mit denen wir versuchen, unser Leben - und die oft schreckliche Welt, die wir um uns herum wahrnehmen - zu begreifen. Sie ist unsere Antwort auf die Frage: Wie können solche Dinge passieren? Storys suggerieren, dass es manchmal - nicht immer, aber manchmal - einen Grund dafür geben könnte.
Von Anfang an - noch bevor ein junger Mann, den ich heute kaum mehr verstehe, in einem Schlafsaal The Long Walk zu schreiben begann - war ich der Meinung, die beste Literatur sei mobilisierend und bedrohlich. Sie springt einem ins Gesicht. Manchmal schreit sie einem ins Gesicht. Ich habe nichts gegen literarische Prosa, die sich meist mit außergewöhnlichen Menschen in gewöhnlichen Situationen befasst, aber als Leser und Autor interessieren mich gewöhnliche Menschen in außergewöhnlichen Situationen weit mehr. Ich möchte bei meinen Lesern eine emotionale, sogar instinktive Reaktion hervorrufen. Sie zum Nachdenken zu bringen, während sie lesen, ist nicht mein Ding. Das setze ich kursiv hierher, denn ist die Erzählung gut genug und sind die Figuren lebendig genug, löst Denken die Gefühle ab, wenn die Story gelesen und das Buch zugeklappt ist (manchmal mit Erleichterung). Ich erinnere mich, George Orwells 1984 mit etwa dreizehn Jahren mit wachsender Verzweiflung, Wut und Empörung verschlungen zu haben, so schnell ich nur konnte - und was wäre daran schlecht? Vor allem nachdem ich bis heute an diesen Roman denke, wenn es wieder einmal irgendeinem Politiker gelingt (wobei ich an Sarah Palin und ihre niederträchtigen Bemerkungen über »Todes-Ausschüsse« denke), Teilen der Öffentlichkeit einzureden, Weiß sei in Wirklichkeit Schwarz und umgekehrt.
Hier ist noch etwas, was ich glaube: Betritt man einen sehr dunklen Ort - wie Wilf James’ Farmhaus in Nebraska in »1922« -, sollte man eine helle Lampe mitnehmen und sie auf alles richten. Will man nichts sehen, wozu sollte man sich dann um Himmels willen überhaupt ins Dunkel wagen? Der große naturalistische Schriftsteller Frank Norris war schon immer einer meiner literarischen Idole, und ich habe seit über vierzig Jahren beherzigt, was er zu diesem Thema gesagt hat: »Ich habe niemals gebuckelt; ich
Aber, Steve, sagen Sie, Sie haben in Ihrer Schriftstellerlaufbahn Unmengen von Pennys verdient, und was die Wahrheit betrifft … die ist variabel, nicht wahr? Ja, ich habe mit meinen Storys viel Geld verdient, aber das war ein Nebeneffekt, niemals das Ziel. Romane für Geld zu schreiben ist Schwachsinn. Und es stimmt: Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Geht es jedoch um erzählende Literatur, besteht die einzige Verpflichtung des Autors darin, die Wahrheit in seinem eigenen Herzen zu erforschen. Das wird nicht immer die Wahrheit des Lesers oder die des Kritikers sein, aber solange es die Wahrheit des Verfassers ist - solange er oder sie nicht buckelt oder den Hut vor Moden zieht -, ist alles gut. Für Schriftsteller, die wissentlich lügen, die reales menschliches Handeln durch unglaubwürdiges Verhalten ersetzen, habe ich nichts als Verachtung übrig. An schlechtem Schreiben sind nicht nur beschissener Satzbau und fehlende Beobachtungsgabe schuld; schlechtes Schreiben entsteht meistens aus einer hartnäckigen Weigerung, davon zu erzählen, was Leute wirklich machen - sich beispielsweise der Tatsache zu stellen, dass auch Mörder manchmal alte Damen über die Straße geleiten.
In Zwischen Nacht und Dunkel habe ich mein Bestes versucht, um festzuhalten, was Menschen tun und wie sie sich unter bestimmten Umständen verhalten könnten. Die Leute in diesen Storys sind nicht ohne Hoffnung, aber sie müssen erkennen, dass selbst unsere kühnsten Hoffnungen (und unsere innigsten Wünsche für unsere Mitmenschen und die Gesellschaft, in der wir leben) manchmal vergeblich sein können. Sogar oft. Aber ich glaube, dass sie auch zeigen, dass Adel sich in erster Linie nicht im Erfolg, sondern in dem Versuch manifestiert, das Rechte zu tun … und dass