»Lauf ins Haus, und hol dir ein paar Wattebäusche für die Nase. Sie sind auf ihrer Kommode.«
Obwohl er den Kopf gesenkt hielt, sah ich seinen raschen Blick aus den Augenwinkeln heraus, bevor er wegtrabte. Das ist alles deine Schuld, besagte dieser Blick. Alles deine Schuld, weil du nicht loslassen konntest.
Trotzdem bezweifelte ich nicht, dass er mir bei der vor uns liegenden Arbeit helfen würde. Unabhängig davon, was er von mir dachte, war jetzt auch sein Mädchen involviert, und er wollte nicht, dass Shan erfuhr, was er gemacht hatte. Zwar war ich es, der ihn dazu gezwungen hatte, aber das würde sie niemals verstehen.
Wir führten Elpis zu dem Holzdeckel, vor dem sie begreiflicherweise zurückscheute. Also gingen wir auf die andere Seite hinüber, spannten die Zaumriemen wie Bänder beim Maibaumtanz und zerrten sie mit Gewalt auf das morsche Holz. Der Deckel knackte unter ihrem Gewicht … bog sich durch … hielt aber. Die alte Kuh stand mit hängendem
»Was jetzt?«, fragte Henry.
Just als ich sagen wollte, das wisse ich auch nicht, zerbrach der Holzdeckel mit einem lauten, spröden Knall in zwei Teile. Wir ließen die Halfterriemen nicht los, obwohl ich einen Augenblick lang glaubte, wir würden mit ausgerenkten Armen in diesen verdammten Brunnen gezogen werden. Dann löste der Zaum sich und kam nach oben geschnellt. Er war auf beiden Seiten gerissen. Unten begann Elpis vor Schmerzen zu muhen und mit den Hufen an die gemauerte Brunnenwand zu trommeln.
»Papa!«, kreischte Henry. Er hatte die Fäuste so fest gegen den Mund gepresst, dass sich die Fingerknöchel in die Oberlippe gruben. »Mach, dass sie aufhört!«
Elpis stieß ein lange nachhallendes Stöhnen aus und trommelte weiter mit den Hufen gegen den Stein.
Ich packte Henry am Arm und zerrte den Stolpernden ins Haus zurück. Dort stieß ich ihn auf Arlettes Versandhaussofa und wies ihn an, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis ich ihn holen käme. »Und denk daran, dass die ganze Sache fast vorbei ist.«
»Die ist nie vorbei«, sagte er und wälzte sich auf dem Sofa auf den Bauch. Er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, obwohl Elpis hier drinnen nicht zu hören war. Sicherlich hörte Henry sie dennoch weiter, ich tat das nämlich immer noch.
Ich holte mein Gewehr zur Schädlingsbekämpfung von der Anrichte. Es war nur ein Kaliber.22, aber es würde genügen. Und wenn Harlan Schüsse hörte, die über die Felder zwischen seiner Farm und meiner hallten? Auch die würden zu unserer Geschichte passen. Das heißt, wenn Henry sich lange genug zusammenreißen konnte, um sie zu erzählen.
Nun etwas, was ich aus dem Jahr 1922 gelernt habe: Es erwarten uns stets schlimmere Dinge. Man glaubt, das Allerschlimmste gesehen zu haben: diese eine Sache, die alle Albträume, die man je gehabt hat, zu einem grotesken Horror vereinigt, der tatsächlich existiert, und der einzige Trost ist, dass es nichts Schlimmeres geben kann. Auch wenn es etwas gäbe, würde man bei seinem Anblick überschnappen und nichts mehr davon wahrnehmen. Aber es gibt Schlimmeres, und trotzdem schnappt man nicht über und macht irgendwie weiter. Man begreift vielleicht, dass es für einen auf dieser Welt nie wieder Freude geben wird, dass durch die eigene Tat alles, was man zu gewinnen hoffte, unerreichbar geworden ist, und wünscht sich vielleicht, man wäre selbst tot - aber man macht weiter. Man erkennt, dass man in einer selbst geschaffenen Hölle ist, aber man macht trotzdem weiter. Weil einem nichts anderes übrigbleibt.
Elpis war auf die Leiche meiner Frau gestürzt, aber Arlettes grinsendes Gesicht war weiter ganz deutlich zu sehen, war weiter der sonnenhellen Welt zugekehrt, schien mich weiter anzusehen. Und die Ratten waren zurückgekommen. Die in ihre Welt stürzende Kuh hatte sie zweifellos in das Rohr zurückgetrieben, das ich später für mich Rattenboulevard nennen würde, aber dann hatten sie frisches Fleisch gewittert und waren eilig zur Erkundung herausgekommen. Sie nagten bereits an der armen alten Elpis, während sie noch muhte und ausschlug (nun schon schwächer), und eine saß auf dem Kopf meiner toten Frau wie eine schaurige Krone. Mit ihren geschickten Pfoten hatte sie ein Loch in den Rupfensack gerissen und ein Haarbüschel herausgezupft. Arlettes Wangen, einst so voll und hübsch, hingen in Fetzen herab.
Nichts kann schlimmer sein als das hier, dachte ich. Damit muss ich am Ende aller Schrecken angelangt sein.
Aber uns erwarten eben stets noch schlimmere Dinge. Während ich von Entsetzen und Abscheu gelähmt in den Brunnen starrte, schlug Elpis wieder aus und traf mit einem ihrer Hufe die Überreste von Arlettes Gesicht. Der Unterkiefer meiner Frau brach mit einem lauten Knacken, und alles unterhalb der Nase wurde wie an einem Scharnier hängend nach links verschoben. Trotzdem blieb ihr Grinsen von einem Ohr zum anderen erhalten. Die Tatsache, dass es nicht mehr zur Augenpartie passte, machte alles noch schlimmer. Statt nur einem Gesicht, das mich verfolgen konnte, schien sie jetzt zwei zu haben. Ihr Körper sank gegen die Matratze, die dadurch seitlich wegrutschte. Die Ratte auf ihrem Kopf flitzte dahinter. Elpis muhte nochmals. Wenn Henry jetzt zurückkäme und in den Brunnen sähe, stellte ich mir vor, würde er mich umbringen, weil ich ihn in diese Sache hineingezogen hatte. Ich hatte vermutlich den Tod verdient. Aber dann wäre er allein zurückgeblieben, und allein wäre er wehrlos gewesen.
Ein Teil des Holzdeckels war in den Brunnen gefallen; der Rest hing noch herab. Ich lud das Gewehr, legte es auf diese Schräge und zielte auf Elpis, die mit gebrochenen Halswirbeln und an die Brunnenwand gedrücktem Schädel dalag. Ich wartete, bis meine Hände nicht mehr zitterten, dann drückte ich ab.
Ein Schuss genügte.
Als ich ins Haus zurückkam, fand ich Henry auf dem Sofa eingeschlafen vor. Ich stand selbst zu sehr unter Schock, um das eigenartig zu finden. In diesem Augenblick erschien er mir als der einzige wahre Lichtblick auf dieser Welt: beschmutzt, aber nicht so schmutzig, dass er nie wieder sauber werden konnte. Ich beugte mich über ihn und küsste ihn auf die Wange. Er stöhnte auf und drehte den Kopf weg. Ich ließ ihn dort liegen und ging in die Scheune hinaus,
»Ich helfe dir«, sagte er ausdruckslos.
»Gut. Nimm den Lastwagen und fahr damit zu dem Erdhaufen am Westzaun …«
»Allein?« Er klang nur andeutungsweise ungläubig, aber es war ermutigend, überhaupt irgendeine Gefühlsregung zu hören.
»Du kennst alle Vorwärtsgänge und kannst den Rückwärtsgang finden, stimmt’s?«
»Ja …«
»Dann kommst du zurecht. Ich habe bis dahin genug zu tun, und wenn du zurückkommst, ist das Schlimmste vorbei.«
Ich wartete darauf, dass er mir nochmals erklären würde, das Schlimmste werde nie vorbei sein, aber das tat er nicht. Ich schaufelte weiter. Ich konnte noch immer Arlettes Kopf und den Rupfensack mit dem grässlichen herausgezogenen Haarbüschel darüber sehen. Irgendwo dort unten gab es vielleicht schon einen Wurf neugeborener Ratten in ihrer Wiege zwischen den Schenkeln meiner toten Frau.
Ich hörte den Motor des Lastwagens kurz stottern, dann noch einmal. Ich hoffte, dass die Kurbel nicht zurückschlagen und Henry den Arm brechen würde.
Beim dritten Versuch sprang unser alter Lastwagen schließlich röhrend an. Henry stellte die Zündung zurück, gab ein paarmal Gas und fuhr davon. Er blieb fast eine Stunde weg, aber als er zurückkam, war die Ladefläche voller Erde und Steine. Er stieß rückwärts an den Brunnenrand heran, stellte den Motor ab und stieg aus. Er hatte das Hemd ausgezogen, und sein schweißnasser Oberkörper war viel zu mager; ich konnte seine Rippen zählen. Ich überlegte, wann