Das weiß ich jetzt.
Nachdem Henry mit 200 Dollar in der Tasche (oder eher 150 Dollar, weil ein Teil des Geldes zu Boden gefallen war, wie Sie sich erinnern werden) aus der First Agricultural Bank geflüchtet war, verschwand er für einige Zeit. Er »tauchte unter«, wie es bei Verbrechern heißt. Das sage ich mit einem gewissen Stolz. Ich hatte geglaubt, dass man ihn fast sofort nach seiner Ankunft in der Stadt schnappen würde, aber er widerlegte meine Befürchtungen. Er war verliebt, er war verzweifelt, er brannte weiter vor Schuldgefühlen und Entsetzen wegen des Verbrechens, das er und ich verübt hatten … aber trotz dieser Ablenkungen (dieser Infektionen) bewies mein Sohn Tapferkeit und Cleverness, sogar eine gewisse traurige Noblesse. Der Gedanke an letzteren Charakterzug ist der schlimmste. Er erfüllt mich noch heute mit Melancholie wegen seines verpfuschten Lebens (wegen dreier verpfuschter Leben; ich darf die arme schwangere Shannon Cotterie nicht vergessen) und Reuegefühlen wegen des Verderbens, in das ich ihn wie ein Kalb mit einem Strick um den Hals geführt habe.
Arlette zeigte mir die Hütte, in der er sich verkrochen hatte, und das dahinter versteckte Fahrrad - dieses Fahrrad war das Erste, was er sich von seiner Beute kaufte. Ich hätte Royal Crown Cola auf der Giebelseite. Sie stand einige Meilen außerhalb von Omaha in Sichtweite des Waisenhauses »Boys Town«, das erst im Jahr zuvor den Betrieb aufgenommen hatte. Ein einziger Raum, ein unverglastes Fenster, kein Ofen. Henry versteckte sein Fahrrad unter Heu und Unkraut und schmiedete Pläne. Ungefähr eine Woche nach dem Überfall auf die First Agricultural Bank - unterdessen würde die Polizei sich kaum mehr für diesen nicht gerade spektakulären Bankraub interessieren - begann er, Radtouren nach Omaha hinein zu unternehmen.
Ein einfältiger Junge wäre geradewegs zum Mädchenheim St. Eusebia gefahren und von den dortigen Cops geschnappt worden (wie Sheriff Jones zweifellos erwartet hatte), aber Henry Freeman James war cleverer. Er kundschaftete die Lage des Heims aus, ohne sich ihm jedoch zu nähern. Stattdessen sah er sich nach dem nächsten Süßwarenladen mit einer Eis- und Limonadentheke um. Er vermutete ganz richtig, dass die Mädchen dort hingehen würden, sooft sie konnten (das heißt, wenn sie sich durch Wohlverhalten einen freien Nachmittag verdient hatten und etwas Geld ihr Eigen nannten). Und obwohl die Mädchen aus St. Eusebia keine Schuluniform tragen mussten, waren sie an ihrer uneleganten Kleidung, ihrem gesenkten Blick und ihrem Benehmen - abwechselnd scheu und kokett - leicht zu erkennen. Die mit dickem Bauch und ohne Trauring mussten am auffälligsten sein.
Ein dummer Junge hätte versucht, an der Limonadentheke mit einer dieser bedauernswerten Evastöchter ins Gespräch zu kommen, was hätte auffallen müssen. Henry postierte sich außerhalb: an der Einmündung einer Gasse, die hinter dem Süßwarenladen und dem Kurzwarengeschäft
Ich habe die junge Frau später ausfindig gemacht und mit ihr gesprochen. Dazu war nicht allzu viel Spürsinn erforderlich. Henry und Shannon kam Omaha bestimmt wie eine Metropole vor, aber im Jahr 1922 war es nur eine überdurchschnittlich große Kleinstadt im Mittleren Westen mit Großstadtambitionen. Heute ist Victoria Hallett eine ehrbare Ehefrau mit drei Kindern, aber im Herbst 1922 war sie Victoria Stevenson: jung, neugierig, rebellisch, im sechsten Monat schwanger und scharf auf Zigaretten der Marke Sweet Corporal. Sie griff gern zu, als Henry ihr sein Päckchen anbot.
»Nimm noch ein paar für später mit«, forderte er sie auf.
Sie lachte. »Das wäre ganz schön plemplem! Wenn wir zurückkommen, filzen die Schwestern unsere Handtaschen und lassen uns alle Taschen umkehren. Weißt du was? Ich muss schon drei Lakritzstangen essen, bloß damit man diese eine Kippe nicht riecht.« Sie tätschelte halb amüsiert, halb trotzig ihren dicken Bauch. »Ich hab Ärger, wie du bestimmt siehst. Böses Mädchen! Und mein Schatz ist abgehauen. Böser Junge, aber das kümmert die Welt nicht! Also hat der Alte mich in ein Gefängnis gesteckt, das von Pinguinen bewacht wird …«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Jesses! Der Alte ist mein Dad! Und Pinguine nennen wir die Schwestern!« Sie lachte wieder. »Du bist ein richtiges
»St. Eusebia.«
»Jetzt kochst du mit Gas, Jackson.« Sie paffte ihre Zigarette und kniff die Augen zusammen. »He, ich wette, dass ich weiß, wer du bist - Shan Cotteries Freund.«
»Der Hauptgewinn - eine Kewpie-Puppe - geht an die junge Dame!«, sagte Hank.
»Also, ich würde mindestens zwei Straßen Abstand vom Heim halten, das wäre mein Rat. Die Cops haben deine Personenbeschreibung.« Sie lachte unbekümmert. »Deine und die von fünf oder sechs weiteren Einsamen Eddies, aber keiner so ein grünäugiger Bauerntölpel wie du - und keiner mit einem so gut aussehenden Mädchen wie Shannon. Sie ist eine Wucht! Echt!«
»Wieso, glaubst du, bin ich hier statt dort?«
»Gut, ich beiße an - wieso bist du hier?«
»Ich will Verbindung mit ihr aufnehmen, aber ich will dabei nicht geschnappt werden. Ich gebe dir 2 Scheinchen, wenn du ihr eine Nachricht von mir bringst.«
Victoria machte große Augen. »Kumpel, für 2 Eier würd ich mir’ne Trompete unter den Arm klemmen und eine Nachricht zu Garcia bringen - so abgebrannt bin ich. Her damit!«
»Und weitere 2, wenn du kein Wort davon erzählst. Weder jetzt noch später.«
»Dafür brauchst du nicht extra zu bezahlen«, sagte sie. »Ich tue nichts lieber, als diese selbstgerechten Weiber reinzulegen. Mann, die schlagen einem schon auf die Hand, wenn man versucht, sich beim Abendessen ein zweites Brötchen zu nehmen! Wie in Gulliver Twist!«
Er gab ihr das Briefchen mit, und Victoria überbrachte es Shannon. Sie hatte es in ihrer kleinen Handtasche, als die Polizei Henry und sie schließlich in Elko, Nevada, stellte,
Ich warte 2 Wochen lang jede Nacht von Mitternacht bis Tagesanbruch hinter dem Heim, hatte er ihr geschrieben. Wenn du nicht kommst, weiß ich, dass es zwischen uns aus ist, & gehe nach Hemingford zurück & belästige dich nie mehr, obwohl ich dich ewig lieben werde. Wir sind jung, aber wir könnten uns älter machen & und anderswo (Kali fornien) ein gutes Leben anfangen. Ich habe etwas Geld & kann mehr bescha f fen. Victoria weiß, wie ich zu finden bin, wenn du mir eine Antwort schicken willst, aber nur einmal. Mehr wäre zu riskant.
Vermutlich besitzen Harlan und Sallie Cotterie das Original. In diesem Fall haben sie gesehen, dass mein Sohn um seine Unterschrift ein Herz gemalt hat. Ich frage mich, ob das Shannon letztlich überzeugt hat. Ich frage mich auch, ob sie eigentlich überzeugt werden musste. Möglicherweise wünschte sie sich nichts mehr auf der Welt, als ihr Baby, das sie schon liebte, behalten (und ehelich machen) zu können. Auf diesen Aspekt ging Arlettes grausige Flüsterstimme nie ein. Vermutlich war er ihr egal.
Nach dieser Begegnung kehrte Henry jeden Tag an die Einmündung der Gasse zurück. Er rechnete irgendwie damit, dass statt Victoria die Cops kamen, war aber davon überzeugt, keine andere Wahl zu haben. Am dritten Tag seiner Wache kam sie endlich. »Shan hat dir gleich geschrieben, aber ich durfte nicht früher raus«, sagte sie. »In dem Loch, das sie hochtrabend Musikzimmer nennen, ist etwas Mary Jane gefunden worden, und seither sind die Pinguine auf dem Kriegspfad.«
Henry streckte seine Hand nach der Antwort aus, die Victoria ihm im Tausch gegen eine Sweet Corporal Morgen früh 2 Uhr.r.
Henry umarmte Victoria und küsste sie. Sie lachte aufgeregt, und ihre Augen blitzten. »Mensch! Manche Mädchen kriegen alles Glück ab.«
Das stimmt zweifellos. Bedenkt man jedoch, dass Victoria es zu einem Ehemann, drei Kindern und einem hübschen Haus in der Maple Street im besten Wohnviertel von Omaha brachte, während Shannon Cotterie nicht einmal mehr das Ende jenes fluchbeladenen Jahres erlebte … welche der beiden hat es Ihrer Ansicht nach glücklich getroffen?