Ich habe etwas Geld & kann mehr bescha f fen, hatte Henry geschrieben, und das tat er auch. Nur wenige Stunden nachdem er die kesse Victoria geküsst hatte (die folgende Antwort für Shannon mitnahm: Er sagt, er kann’s kaum noch erwarten), überfiel ein junger Mann mit tief in die Stirn gezogener flacher Schirmmütze und einem Halstuch vor Mund und Nase die First National Bank in Omaha. Diesmal erbeutete der Täter 800 Dollar, was eine schöne Beute war. Aber der Wachmann hier war jünger und nahm seine Pflichten ernster, was weniger schön war. Der Bankräuber musste ihn in den Oberschenkel schießen, um flüchten zu können, und obwohl Charles Griner überlebte, setzte eine Infektion ein (das konnte ich mitfühlen), und er verlor das Bein. Als ich ihn im Frühjahr 1925 im Haus seiner Eltern besuchte, beurteilte er die Sache recht abgeklärt.
»Ich kann von Glück sagen, dass ich überhaupt noch lebe«, meinte er. »Bis jemand mir das Bein abgebunden hat, habe ich in einer Blutlache gelegen, die fast eine verdammte Handbreit hoch war. Ich wette, dass jemand eine ganze Schachtel Dreft gebraucht hat, um diese Schweinerei zu beseitigen.«
Als ich mich für meinen Sohn entschuldigen wollte, winkte er ab.
»Ich hätte mich ihm nie in den Weg stellen sollen. Er hatte die Mütze tief in die Stirn gedrückt und das Halstuch bis über die Nase hochgezogen, aber ich konnte die Augen gut erkennen. Ich hätte wissen müssen, dass er nur durch einen Schuss zu stoppen sein würde, aber ich bin gar nicht an meine Waffe rangekommen. Es hat in seinen Augen gestanden, wissen Sie? Aber damals war ich selbst jung. Jetzt bin ich älter. Ihr Sohn hatte nie eine Chance, das zu werden. Mein Beileid zu Ihrem Verlust.«
Nach diesem Überfall hatte Henry mehr als genug Geld, um sich ein Auto zu kaufen - ein schönes, eine Cabriolimousine -, aber er hütete sich davor. (Während ich dies schreibe, empfinde ich wieder einen gewissen Stolz - schwach ausgeprägt, aber nicht zu leugnen.) Ein Junge, der aussah, als würde er sich erst seit ein paar Wochen rasieren, schwenkte genug Bargeld, um einen fast neuen Olds zu kaufen? Damit hätte er die Polizei gleich auf dem Hals gehabt.
Statt ein Auto zu kaufen, stahl er eines. Ebenfalls keine Cabriolimousine; stattdessen entschied er sich für ein nettes, unscheinbares Ford-Coupé. Dies war der Wagen, mit dem er hinter St. Eusebia parkte, und dies war der Wagen, in den Shannon stieg, nachdem sie heimlich ihr Zimmer verlassen hatte, mit ihrer Reisetasche in der Hand die Treppe hinuntergeschlichen war und sich durch ein Fenster des Waschraums neben der Küche gezwängt hatte. Sie hatten Zeit für einen einzigen Kuss - Arlette sagte nichts davon, aber ich besitze noch ausreichend Phantasie -, dann lenkte Henry den Ford nach Westen. Bei Tagesanbruch waren sie auf dem Highway von Omaha nach Lincoln unterwegs. Gegen 3 Uhr nachmittags müssen sie nahe an seinem
Ihr Leben auf der Flucht hatte begonnen.
Arlette flüsterte mir mehr über dieses Leben ins Ohr, als ich wissen wollte, und ich bringe es nicht übers Herz, es hier in allen Einzelheiten zu schildern. Wenn Sie mehr erfahren wollen, können Sie sich gern an die öffentliche Stadtbücherei in Omaha wenden. Gegen Gebühr erhalten Sie dort hektographierte Kopien von Berichten über die Sweetheart Bandits, als die sie bekannt wurden (und wie sie sich selbst nannten). Auch wenn Sie nicht in Omaha leben, finden Sie vielleicht sogar welche im Archiv Ihrer Heimatzeitung; das Ende der beiden galt als so tragisch anrührend, dass landesweit darüber berichtet wurde.
Der hübsche Hank und die süße Shannon, nannte der World-Herald sie. Auf den Photographien sahen sie unmöglich jung aus. Ich wollte mir diese Aufnahmen nicht ansehen, aber ich tat es natürlich doch. Es gibt mehr als eine Möglichkeit, von Ratten gebissen zu werden, nicht wahr?
In den Sandhügeln von Nebraska hatte der gestohlene Wagen eine Reifenpanne. Als Henry eben das Reserverad montierte, kamen zwei Männer zu Fuß heran. Einer von ihnen zog aus einer Schlinge unter seinem Mantel eine Schrotflinte - einst im Wilden Westen als Banditen-Klauenhammer bezeichnet - und bedrohte damit die ausgerissenen Liebenden. Henry hatte keine Chance, an seine Pistole heranzukommen; sie steckte in seiner Jackentasche, aber hätte er danach gegriffen, wäre er bestimmt erschossen worden. So wurde der Räuber beraubt. Unter dem kalten
Die junge Frau in seiner Begleitung, erzählte der Farmer einem Reporter, stand mit dem Rücken zu ihnen auf der Veranda. Der Farmer glaubte, sie habe geweint. Er sagte, sie habe ihm leidgetan, weil sie ein schüchternes kleines Ding gewesen sei: unverkennbar schwanger und mit einem jungen Desperado unterwegs, der kein gutes Ende nehmen würde.
Ob sie versucht habe, ihn daran zu hindern, fragte der Reporter. Ob sie versucht habe, ihm den Überfall auszureden.
Nein, sagte der Farmer. Sie hatte ihnen nur den Rücken zugekehrt, als würde sie glauben, was sie nicht sehe, passiere auch nicht. Der klapprige alte Reo des Farmers wurde in der Nähe des Bahnhofs von McCook verlassen aufgefunden - mit einem Zettel auf dem Fahrersitz: Hier ist erst mal Ihr Wagen; das gestohlene Geld erstatten wir, sobald wir können. Wir haben Sie nur beraubt, weil wir in der Klemme saßen. Mit vorzüglicher Hochachtung »The Sweetheart Bandits«. Wessen Idee war dieser Name gewesen? Vermutlich Shannons, denn sie hatte auch diese Nachricht geschrieben. Dabei hatte sie ihn nur benutzt, um ihre wirklichen Namen nicht preisgeben zu müssen, aber das ist nun einmal der Stoff, aus dem Legenden entstehen.
Ein, zwei Tage später wurde die winzige Frontier Bank in Arapahoe, Colorado, überfallen. Der Bankräuber - mit tief in die Stirn gezogener flacher Schirmmütze und einem Halstuch vor Mund und Nase - war allein. Er erbeutete weniger als 100 Dollar und fuhr mit einem Hupmobile davon, das in McCook als gestohlen gemeldet worden war.
Am nächsten Tag wurde der junge Mann in der First Bank of Cheyenne Wells (der einzigen Bank in Cheyenne Wells) von einer jungen Frau begleitet. Auch sie hatte ihr Gesicht mit einem Halstuch getarnt, konnte aber nicht verbergen, dass sie schwanger war. Die beiden entkamen mit 400 Dollar und rasten nach Westen aus der Stadt. Die Polizei errichtete auf der Straße nach Denver eine Straßensperre, aber Henry handelte clever und hatte weiter Glück. Sie bogen kurz nach Cheyenne Wells nach Süden ab und arbeiteten sich auf unbefestigten Straßen und Viehtreiberpfaden weiter vor.
Eine Woche später bestieg ein junges Paar, das sich Harry und Susan Freeman nannte, in Colorado Springs den Zug nach San Francisco. Wieso die beiden in Grand Junction plötzlich ausstiegen, weiß ich nicht, und Arlette sagte nichts darüber - sie sahen etwas, was ihnen Angst einjagte, vermute ich mal. Ich weiß nur, dass sie dort eine Bank ausraubten und dann eine weitere in Ogden, Utah, überfielen. Ihre Art, Geld für ihr neues Leben zusammenzusparen vielleicht. Und in Ogden versuchte ein Mann, Henry vor dem Bankeingang aufzuhalten. Henry schoss ihm in die Brust. Der Mann rangelte trotzdem mit ihm, worauf Shannon ihn die Granitstufen hinunterstieß. So gelang ihnen die Flucht. Der von Henry Angeschossene starb zwei Tage später im Krankenhaus. Die Sweetheart Bandits waren zu Mördern geworden. In Utah erwartete verurteilte Mörder der Strang.
Unterdessen war es um Thanksgiving herum, ob davor oder danach, weiß ich nicht. Die Polizei westlich der Rockies hatte ihre Personenbeschreibung und hielt die Augen offen. Ich war von der im Kleiderschrank lauernden Ratte gebissen worden - glaube ich - oder war kurz davor. Arlette erzählte mir, sie seien tot, aber das waren sie nicht - nicht schon damals, als sie mich mit ihrem Gefolge heimsuchte.
Ihre vorletzte Station war Deeth, Nevada. Dieser Tag Ende November, Anfang Dezember war bitterkalt, und aus dem weißen Himmel hatte es zu schneien begonnen. Sie wollten nur Eier und Kaffee in dem einzigen Schnellimbiss der Stadt, aber ihr Glück war aufgebraucht. Der Thekenmann stammte aus Elkhorn, Nebraska, und obwohl er seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen war, schickte seine Mutter ihm weiter gewissenhaft Pakete mit alten Ausgaben des World-Herald. Er hatte erst wenige Tage zuvor eine dieser Sendungen bekommen und merkte sofort, dass die Sweetheart Bandits aus Omaha an einem der Tische saßen.