Statt die Polizei anzurufen (oder den Sicherheitsdienst der nahe gelegenen Kupfermine, was schneller und wirkungsvoller gewesen wäre), entschied er sich dafür, sie selbst festzunehmen, wozu jeder Bürger berechtigt war. Er holte einen rostigen alten Cowboyrevolver unter der Theke hervor, zielte damit auf die beiden und forderte sie in bester Westerntradition auf, die Hände hochzunehmen. Henry tat nichts dergleichen. Er glitt aus der Sitznische, ging auf den Kerl zu und sagte dabei: »Tun Sie das nicht, mein Freund, wir wollen Ihnen nichts Böses, wir zahlen einfach und gehen.«
Der Thekenmann drückte ab, aber der alte Revolver ging nicht los. Henry nahm ihm die Waffe ab, klappte den Zylinder heraus, sah hinein und lachte. »Kein Grund zur Sorge!«, erklärte er Shannon. »Die Munition ist so alt, dass sie schon Grünspan angesetzt hat.«
Er legte 2 Dollar auf die Theke - für ihr Essen - und machte dann einen schrecklichen Fehler. Ich glaube bis heute, dass es mit ihnen auf jeden Fall ein schlimmes Ende genommen hätte, aber trotzdem wünsche ich mir, ich könnte Lass den Revolver nicht geladen liegen. Tu das nicht, Sohn! Grünspan oder nicht, steck diese Patronen ein! Aber nur die Toten können über Jahre hinweg rufen, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß.
Als sie hinausgingen (Hand in Hand, flüsterte Arlette in mein brennend heißes Ohr), schnappte der Thekenmann sich den alten Revolver, umklammerte den Griff mit beiden Händen und drückte ab. Diesmal fiel ein Schuss, und obwohl er wahrscheinlich glaubte, er ziele auf Henry, traf die Kugel Shannon Cotterie ins Kreuz. Sie schrie auf und taumelte aus der Tür ins Schneetreiben hinaus. Henry fing sie auf, bevor sie zusammenbrach, und half ihr in ihren letzten gestohlenen Wagen, einen anderen Ford. Der Thekenmann machte Anstalten, durchs Fenster auf sie zu schießen, aber diesmal explodierte das alte Schießeisen in seinen Händen. Ein Metallsplitter durchschlug sein linkes Auge. Das hat mir nie leidgetan. Ich verzeihe nicht so leicht wie Charles Griner.
Bei Shannon, die schwer verwundet war, vielleicht schon im Sterben lag, setzten die Wehen ein, während Henry in dichter werdendem Schneetreiben in Richtung Elko - 30 Meilen südwestlich - fuhr, weil er vielleicht hoffte, dort einen Arzt zu finden. Ich weiß nicht, ob es dort einen gab oder nicht, aber es gab jedenfalls ein Polizeirevier, wo der Thekenmann anrief, während die Reste seines Augapfels noch auf der Wange antrockneten. Zwei Polizisten aus Elko und vier Trooper der Nevada State Patrol warteten am Ortsrand auf Henry und Shannon, aber sie bekamen die beiden nie zu Gesicht. Zwischen Deeth und Elko liegen 30 Meilen, von denen Henry nur 28 schaffte.
Knapp hinter der Stadtgrenze (aber noch weit vom Ortsrand entfernt) verließ Henrys Glück ihn endgültig. Weil Shannon ununterbrochen schrie und sich den Bauch hielt, während sie den Sitz vollblutete, muss er schnell gefahren
Weil er durch den stärker werdenden Schneefall die schemenhaften Umrisse einer Hütte erspähte, zog er Shannon vorsichtig aus dem Wagen. Sie schaffte ein paar Schritte gegen den heulenden Wind, dann konnte sie nicht mehr. Das Mädchen, das Triggerometrie konnte und die erste Absolventin des normalen Colleges in Omaha hätte sein können, legte den Kopf auf die Schulter ihres jungen Mannes und sagte: »Ich kann nicht weiter, Schatz, leg mich hin.«
»Was ist mit dem Baby?«, fragte er sie.
»Das Baby ist tot, und ich will auch sterben«, sagte sie. »Ich halte die Schmerzen nicht mehr aus. Sie sind grauenvoll. Ich liebe dich, Schatz, aber leg mich hin.«
Stattdessen trug Henry sie in die schemenhaft erkennbare Hütte, die sich als kleine Cowboyunterkunft erwies - ähnlich seinem Schuppen in der Nähe des Waisenhauses »Boys Town«, dem mit der verblassten Werbung für Royal Crown Cola an der Giebelseite. Hier gab es einen Ofen, aber kein Holz. Er ging hinaus und suchte ein paar abgebrochene Äste zusammen, bevor der Schnee sie verdecken konnte, und als er zurückkam, war Shannon bewusstlos. Henry machte Feuer, dann nahm er ihren Kopf in den Schoß. Shannon Cotterie war tot, bevor sein jämmerliches kleines Feuer heruntergebrannt war, und dann war nur noch Henry übrig, der in einer schäbigen kleinen Schlafbaracke
All diese Dinge erzählte Arlette mir - und das an einem Tag, an dem die beiden dem Untergang geweihten Kinder noch lebten. All diese Dinge erzählte sie mir, während die Ratten um mich herumkrochen und Gestank meine Nase füllte und meine entzündete, geschwollene Hand wie Feuer brannte.
Ich flehte sie an, mich umzubringen, mir die Kehle durchzuschneiden, wie ich ihre durchgeschnitten hatte, aber sie tat nichts dergleichen. Sie tat es einfach nicht.
Das war ihre Rache.
Als der Besucher auf meine Farm kam, waren vielleicht zwei oder sogar drei Tage vergangen, obwohl ich das nicht glaube. Ich denke, dass es nur einer war. Ich glaube nicht, dass ich noch zwei oder drei Tage ohne Hilfe hätte durchhalten können. Ich hatte aufgehört zu essen und trank auch fast nichts mehr. Trotzdem schaffte ich es, aus dem Bett aufzustehen und zur Haustür zu torkeln, als jemand daran zu hämmern begann. Irgendwie glaubte ich, das könnte Henry sein, weil ich noch halbwegs zu hoffen wagte, dass Arlettes Besuch nur eine im Fieberwahn entstandene Illusion gewesen war … oder dass sie, wenn er real gewesen war, bestimmt gelogen hatte.
Draußen stand Sheriff Jones. Als ich ihn sah, gaben meine Knie nach, und ich fiel nach vorn. Hätte er mich nicht aufgefangen, wäre ich auf die Veranda geschlagen. Ich wollte ihm von Henry und Shannon erzählen - dass Shannon angeschossen werden würde, dass die beiden in einer Hütte am Ortsrand von Elko enden würden, dass er, Sheriff
»Er ist mit ihr durchgebrannt, das stimmt«, sagte Jones. »Aber wenn Harl vorbeigekommen ist und Ihnen das erzählt hat, warum hat er Sie dann so zurückgelassen? Was hat Sie gebissen?«
»Ratte«, brachte ich heraus.
Er legte einen Arm um mich und schleppte mich die Stufen hinunter und dann weiter zu seinem Wagen. George der Gockel lag steif gefroren neben dem Holzstapel, und die Kühe muhten. Wann hatte ich sie zuletzt gefüttert? Ich wusste es nicht.
»Sheriff, Sie müssen …«
Aber er unterbrach mich. Er glaubte, ich phantasiere, und wieso auch nicht? Er konnte spüren, dass ich im Fieber glühte, und sah es meinem geröteten Gesicht an. Er musste das Gefühl haben, den Arm um einen Ofen gelegt zu haben. »Sie müssen sich schonen. Und Sie sollten Arlette dankbar sein, ohne sie wäre ich nämlich niemals hergekommen.«
»Tot«, stieß ich hervor.
»Ja. Sie ist tot, das stimmt.«
Also erzählte ich ihm, dass ich sie umgebracht hatte. Oh, diese Erleichterung! In meinem Kopf schien ein bisher verstopftes Rohr sich auf magische Weise geöffnet zu haben, und der infizierte Geist, der dort gefangen gewesen war, entwich endlich.
Er warf mich wie einen Mehlsack in seinen Wagen. »Über Arlette reden wir später. Als Erstes bringe ich Sie zu den Barmherzigen Schwestern und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir nicht ins Auto kotzen würden.«
Als er vom Hof fuhr und den toten Gockel und die muhenden Kühe zurückließ (und die Ratten! die nicht zu Dies sind Dinge, die noch geschehen können, als wäre ich der Geist der künftigen Weihnachten aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder aufwachte, hatten wir den 2. Dezember, und die Zeitungen im Westen meldeten: »SWEETHEART BANDITS« ENTKOMMEN POLIZEI IN ELKO, WEITERHIN FLÜCHTIG. Das stimmte zwar nicht, aber das wusste noch niemand. Außer Arlette, versteht sich. Und mir.