Der Arzt glaubte, der Wundbrand habe den Unterarm noch nicht erfasst, und setzte mein Leben aufs Spiel, indem er nur die linke Hand amputierte. Seine Spekulation ging auf. Fünf Tage nachdem Sheriff Jones mich ins Krankenhaus zu den Barmherzigen Schwestern in Hemingford City gebracht hatte, lag ich blass und schwach in einem Krankenbett, zwanzig Pfund leichter und ohne meine linke Hand, aber lebendig.
Jones kam mich besuchen. Er hatte eine ernste Miene aufgesetzt. Ich war darauf gefasst, dass er mir mitteilen würde, er verhafte mich wegen Mordes an meiner Frau, und meine verbliebene Hand an einen Bettpfosten ketten würde. Stattdessen sprach er mir sein Beileid zu meinem Verlust aus. Zu meinem Verlust! Was verstand dieser Idiot davon?
Wieso sitze ich in diesem schäbigen Hotelzimmer (wenngleich nicht allein!), statt in einem Mördergrab zu liegen? Das kann ich Ihnen in drei Worten sagen: wegen meiner Mutter.
Wie Sheriff Jones hatte sie die Angewohnheit, jede Unterhaltung mit rhetorischen Fragen zu würzen. Bei ihm Du solltest jetzt lieber reinkommen, nicht wahr? Oder: Dein Vater hat wieder seinen Lunch vergessen; du wirst ihn ihm bringen müssen, stimmt’s? Selbst Bemerkungen über das Wetter klangen wie Fragen: Wieder ein Regentag, nicht wahr?
Obwohl ich an jenem Tag Ende November, als Sheriff Jones vor meiner Tür gestanden hatte, fiebrig und sehr krank gewesen war, hatte ich mich nicht im Delirium befunden. Ich erinnere mich sehr genau an unser Gespräch, so wie man sich manchmal an Bilder aus einem besonders lebhaften Albtraum erinnert.
Sie sollten Arlette dankbar sein, denn ohne sie wäre ich niemals hergekommen, hatte er gesagt.
Tot, hatte ich geantwortet.
Sheriff Jones: Sie ist tot, das stimmt.
Und dann hatte ich gesprochen, wie ich’s auf dem Schoß meiner Mutter gelernt hatte: Ich habe sie umgebracht, nicht wahr?
Sheriff Jones fasste den rhetorischen Kunstgriff meiner Mutter (und nicht zu vergessen seinen eigenen) als wirkliche Frage auf. Jahre später - in der Fabrik, in der ich Arbeit gefunden hatte, nachdem ich die Farm hatte verkaufen müssen - hörte ich, wie ein Vorarbeiter einen Versandarbeiter dafür ausschalt, dass er eine Lieferung statt nach Aber die Mittwochlie ferung geht immer nach Des Moines, protestierte der vor seiner Entlassung stehende Mann. Ich habe nur angenommen …
Annahmen machen Sie und mich zum Esel, antwortete der Vorarbeiter. Eine alte Redensart, vermute ich, die ich jedoch zum ersten Mal hörte. Und ist es verwunderlich, dass ich dabei an Sheriff Jones denken musste? Die Angewohnheit meiner Mutter, Aussagen in Frageform zu kleiden, bewahrte mich vor dem elektrischen Stuhl. Ich musste mich wegen des Mordes an meiner Frau nie vor einem Geschworenengericht verantworten.
Das heißt, bislang noch nicht.
Sie sind hier bei mir, weit mehr als zwölf, an allen Wänden entlang der Fußbodenleiste aufgereiht, und beobachten mich mit öligen Augen. Käme ein Zimmermädchen mit frischer Bettwäsche herein und sähe diese Geschworenen im Pelz, würde sie kreischend hinauslaufen, aber hier wird kein Mädchen hereinkommen; vor zwei Tagen habe ich das Schild BITTE NICHT STÖREN außen an die Türklinke gehängt, und dort baumelt es noch immer. Ich bin nicht ausgegangen. Ich könnte mir aus dem Restaurant unten auf der Straße Essen kommen lassen, nehme ich an, aber ich vermute, dass Essen sie provozieren würde. Ich bin ohnehin nicht hungrig, also ist das kein großes Opfer. Sie sind bisher geduldig gewesen, meine Geschworenen, aber ich befürchte, dass sie das nicht mehr lange bleiben werden. Wie alle Geschworenen warten sie darauf, dass die Zeugenaussagen abgeschlossen werden, damit sie ein Urteil fällen, ihre symbolische Entschädigung kassieren (in diesem Fall in Form von Fleisch) und zu ihren Familien heimkehren können. Deshalb muss ich zum Ende kommen.
Das wird nicht lange dauern. Der schwierige Teil liegt hinter mir.
Als Sheriff Jones sich an mein Krankenbett setzte, sagte er: »Sie haben es vermutlich in meinem Blick gesehen. Nicht wahr?«
Ich war weiter sehr krank, aber erholt genug, um vorsichtig zu sein. »Was gesehen, Sheriff?«
»Was ich Ihnen mitteilen wollte. Sie erinnern sich nicht daran, nicht wahr? Na, das überrascht mich nicht weiter. Sie waren schwer krank, Wilf. Ich war mir ziemlich sicher, dass Sie sterben würden, und dachte, ich würde Sie nicht mehr lebend in die Stadt bringen. Aber anscheinend ist Gott noch nicht mit Ihnen fertig, nicht wahr?«
Irgendetwas war noch nicht mit mir fertig, aber ich bezweifelte, dass es Gott war.
»War es Henry? Sind Sie rausgekommen, um mir von Henry zu erzählen?«
»Nein«, sagte er, »ich war wegen Arlette bei Ihnen. Eine schlimme Nachricht, die schlimmste, aber Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Schließlich haben Sie sie nicht aus dem Haus geprügelt.« Er beugte sich vor. »Sie denken vielleicht, dass ich Sie nicht mag, Wilf, aber das stimmt nicht. In unserer Gegend gibt es welche, die das tun - und wir wissen, wer sie sind, nicht wahr? -, aber Sie dürfen mich nicht mit ihnen zusammenwerfen, nur weil ich ihre Interessen berücksichtigen muss. Sie haben mich ab und zu verärgert, und ich glaube, Sie könnten weiter mit Harl Cotterie befreundet sein, wenn Sie Ihren Jungen straffer im Zaum gehalten hätten, aber ich habe Sie immer respektiert.«
Das bezweifelte ich, hielt aber den Mund.
»Was Arlette betrifft, will ich es wiederholen, weil es eine Wiederholung wert ist: Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«
Ich durfte nicht? Ich fand, selbst für einen Gesetzeshüter, der nie mit Sherlock Holmes verwechselt werden würde, war das eine seltsame Schlussfolgerung.
»Henry ist in Schwierigkeiten, wenn auch nur einige der Berichte, die ich bekomme, wahr sind«, sagte er mit schwerer Stimme, »und er hat Shannon Cotterie mit ins heiße Wasser reingezogen. Darin werden sie vermutlich kochen. Das bringt Ihnen Kummer genug, ohne dass Sie auch noch behaupten, für den Tod Ihrer Frau verantwortlich zu sein. Sie brauchen nicht …«
»Erzählen Sie’s mir einfach«, sagte ich.
Zwei Tage vor seinem Besuch - vielleicht an dem Tag, an dem die Ratte mich biss, vielleicht auch nicht, aber um diese Zeit herum - hatte ein Farmer, der eine letzte Ladung Gemüse nach Lyme Biska brachte, drei Kojoten beobachtet, die sich ungefähr zwanzig Schritte nördlich der Straße um etwas balgten. Er wäre wohl weitergefahren, hätte er nicht im Straßengraben einen abgewetzten Damenschuh aus Lackleder und einen rosa Schlüpfer entdeckt. Er hielt an, gab einen Schuss aus seinem Gewehr ab, um die Kojoten zu vertreiben, und ging auf das Feld, um zu sehen, worum sie sich gebalgt hatten. Was er fand, war das Skelett einer Frau, an dem in den Überresten eines Kleides noch einige Fleischfetzen hafteten. Was von ihrem Haar übrig war, war mattbraun - eine Farbe, die Arlettes rötlich braunes Haar nach Monaten in Wind und Wetter angenommen haben konnte.
»Zwei Backenzähne haben gefehlt«, sagte Jones. »Haben Arlette ein paar Backenzähne gefehlt?«
»Ja«, log ich. »Die hat sie wegen einer Zahnfleischentzündung verloren.«
»Als ich damals bei Ihnen war, kurz nachdem sie abgehauen war, hat Ihr Junge gesagt, dass sie ihren guten Schmuck mitgenommen hat.«
»Ja.« Der Schmuck, der jetzt in dem Brunnen lag.
»Als ich gefragt habe, ob sie vielleicht Geld mitgenommen hat, haben Sie 200 Dollar erwähnt. Richtig?«
Ah, ganz recht. Die fiktiven 200 Dollar, die Arlette angeblich aus meiner Kommode genommen hatte. »Ja, das stimmt.«
Jones nickte. »Nun, da haben wir’s, da haben wir’s. Etwas Schmuck und etwas Geld. Das erklärt alles, nicht wahr?«