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»Ich verstehe nicht, was …«

»Weil Sie die Sache nicht aus dem Blickwinkel eines Polizeibeamten betrachten. Sie ist auf der Straße ausgeraubt worden, das ist alles. Irgendein Schuft hat eine Frau gesehen, die zwischen Hemingford und Lyme Biska als Anhalterin unterwegs war, sie ermordet, ihr das Geld und den Schmuck geraubt und die Leiche dann aufs nächste Feld geschleppt, damit sie von der Straße aus nicht zu sehen sein würde.« Sein langes Gesicht zeigte, dass er glaubte, sie sei wahrscheinlich nicht nur beraubt, sondern auch vergewaltigt worden, und es sei vermutlich ein Glück, dass nicht genug von ihr übrig war, um diesen Verdacht zu bestätigen.

»So dürfte es gewesen sein«, sagte ich und schaffte es irgendwie, ernst zu bleiben, bis er gegangen war. Dann wälzte ich mich auf die Seite, und obwohl ich mir dabei den Armstumpf schmerzhaft anstieß, lachte ich los. Ich vergrub das Gesicht im Kopfkissen, aber nicht einmal das konnte das Geräusch wirklich dämpfen. Als die Krankenschwester - ein hässlicher alter Drachen - hereinkam und mein tränenüberströmtes Gesicht sah, nahm sie an (Annahmen machen Sie und mich zum Esel), ich hätte geweint. Sie war gerührt, was ich für unmöglich gehalten hätte, und gab mir eine Morphiumtablette extra. Schließlich war ich ein trauernder Ehemann und Vater. Ich hatte Trost verdient.

Und wissen Sie, warum ich lachte? Über Jones wohlmeinende Dummheit? Das glückliche Auftauchen einer toten Landstreicherin, die vielleicht von ihrem Begleiter umgebracht wurde, als beide betrunken waren? Ich lachte über beides, aber vor allem über den Schuh. Der Farmer hatte nur angehalten, um festzustellen, worum die Kojoten sich balgten, weil er im Straßengraben einen Frauenschuh aus Lackleder hatte liegen sehen. Aber als Sheriff Jones sich an jenem Tag im vergangenen Sommer bei mir nach Schuhwerk erkundigt hatte, hatte ich ihm erklärt, Arlette habe ihre Leinenschuhe getragen. Das hatte der Idiot vergessen.

Und es fiel ihm auch nie wieder ein.

Als ich auf die Farm zurückkam, war fast alles Vieh verendet. Die einzige Überlebende war Achelois, die mich mit vorwurfsvollem Hungerblick betrachtete und klagend muhte. Ich fütterte sie so liebevoll, wie man nur ein Haustier füttern würde, und mehr war sie eigentlich auch nicht. Wie sonst würde man ein Tier bezeichnen, das nicht länger zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann?

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Harlan sich mit Hilfe seiner Frau um meine Farm gekümmert hätte, während ich im Krankenhaus war; bei uns im Mittleren Westen war das unter Nachbarn üblich. Aber sogar als das klagende Muhen meiner verendenden Kühe über die Felder an sein Ohr gedrungen sein musste, wenn er sich zum Abendessen setzte, blieb er weg. Ich an seiner Stelle hätte vielleicht genauso gehandelt. In Harlan Cotteries Augen (und denen der Welt) hatte mein Sohn sich nicht damit begnügt, seine Tochter nur zu ruinieren; er war ihr an den Ort gefolgt, an dem sie Zuflucht hätte finden sollen, hatte sie entführt und zu einem Verbrecherdasein gezwungen. Wie das Gerede von den »Sweetheart Bandits« sich in sein Herz eingefressen haben musste! Wie Säure!

In der folgenden Woche - ungefähr zu der Zeit, als Farmhäuser und die Main Street in Hemingford Home weihnachtlich geschmückt wurden - kam Sheriff Jones wieder zu mir auf die Farm heraus. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um mir zu zeigen, mit welcher Nachricht er kam, und ich schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein. Nicht noch mehr. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Verschwinden Sie!«

Ich flüchtete ins Haus und hielt die Tür zu, aber ich war einarmig und schwach, und er konnte sich mühelos Zutritt verschaffen. »Reißen Sie sich zusammen, Wilf«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie das durchstehen können.« Als ob er wüsste, wovon er redete.

Jones sah in den Schrank, auf dem der Zierbierkrug stand, fand meine traurig leere Flasche Whiskey, kippte den letzten Fingerbreit in den Krug und gab ihn mir. »Der Doktor wäre dagegen«, sagte er, »aber er ist nicht hier, und Sie werden ihn brauchen.«

Die Sweetheart Bandits waren in ihrem letzten Versteck aufgefunden worden: Shannon an der Kugel des Thekenmanns gestorben, Henry an einer, die er sich selbst in den Kopf gejagt hatte. Die Toten waren vorläufig nach Elko ins Leichenhaus gebracht worden. Harlan Cotterie würde seine Tochter heimholen, aber mit meinem Sohn wollte er nichts zu schaffen haben. Natürlich nicht. Ich kümmerte mich selbst darum. Henry traf am 18. Dezember mit dem Zug in Hemingford ein, und ich war mit einer schwarzen Leichenkutsche des Bestattungsunternehmens Castings Brothers am Bahnhof. Ich wurde mehrmals photographiert. Man stellte mir Fragen, die ich nicht einmal zu beantworten versuchte. Die Schlagzeilen des World-Herald und des weit bescheideneren Wochenblatts Hemingford Weekly enthielten die Worte TRAUERNDER VATER.

Hätten die Reporter mich jedoch in der Leichenhalle gesehen, als der billige Fichtensarg geöffnet wurde, hätten sie

»Richten Sie ihn her«, wies ich Herbert Castings an, als ich wieder vernünftig reden konnte.

»Mr. James … Sir … die Schäden sind so …«

»Ich sehe, wie schlimm die Schäden sind. Richten Sie ihn her. Und holen Sie ihn aus dieser scheiß Kiste. Legen Sie ihn in den besten Sarg, den Sie haben. Was das kostet, ist mir egal. Ich habe Geld.« Ich beugte mich über ihn und küsste die zerfetzte Wange. Kein Vater sollte seinen Sohn zum letzten Mal küssen müssen, aber wenn irgendein Vater jemals dieses Los verdient hatte, war ich es.

Shannon und Henry wurden beide von der Glory of God Methodist Church in Hemingford aus beigesetzt, Shannon am 22. Dezember und Henry am Heiligabend. Bei Shannon war die Kirche voll, und das Weinen war fast laut genug, um die Mauern zum Beben zu bringen. Das weiß ich, weil ich dort war, zumindest eine Zeit lang. Ich stand unbeachtet ganz hinten und schlich mich nach der Hälfte der Trauerrede von Reverend Thursby hinaus. Rev. Thursby bestattete auch Henry, aber ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass die Trauergemeinde viel kleiner war. Thursby sah nur mich, aber ich war dennoch nicht der einzige Gottesdienstbesucher. Auch Arlette war da und

Ge fällt es dir, wie alles ausgegangen ist, Wil f? War’s das wert?

Zählte man alles zusammen - Trauergottesdienst, Grabmiete, Bestattungsunternehmen und Heimtransport der Leiche -, kostete die Beisetzung der sterblichen Überreste meines Sohnes etwas über 300 Dollar. Die bezahlte ich von meiner Hypothek. Woher hätte ich das Geld sonst nehmen sollen? Nach der Beerdigung fuhr ich heim in mein leeres Haus. Aber zuvor kaufte ich mir eine neue Flasche Whiskey.

1922 hatte noch eine weitere Überraschung parat. Einen Tag nach Weihnachten kam ein gewaltiger Blizzard aus den Rockies herangeröhrt und überfiel uns mit 30 Zentimeter Schnee und Wind in Sturmstärke. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde der Schnee erst zu Schneeregen, dann zu peitschendem Regen. Gegen Mitternacht, als ich in dem düsteren Wohnzimmer saß und meinen pochenden Armstumpf mit kleinen Schlucken Whiskey zu beruhigen versuchte, kam von der Rückseite des Hauses ein gewaltiges Knirschen und Krachen. Das war das Dach, das teilweise einstürzte - genau der Teil, für dessen Ausbesserung die aufgenommene Hypothek unter anderem hätte dienen sollen. Ich hob mein Glas zu einem ironischen Toast und nahm noch einen Schluck. Als kalter Wind um meine Schultern zu wehen begann, stand ich auf, holte meinen Mantel von seinem Haken im Vorraum und zog ihn an. Dann setzte ich mich wieder und trank noch etwas Whiskey. Irgendwann döste ich ein. Gegen drei Uhr weckte mich ein weiteres knirschendes Krachen. Diesmal war es die vordere Hälfte des Stalls, die eingestürzt war. Achelois überlebte auch dieses Mal, und am folgenden Tag holte ich sie

Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags (den ich damit verbrachte, in meinem kalten Wohnzimmer kleine Schlucke Whiskey zu trinken, wobei mir meine überlebende Kuh Gesellschaft leistete) zählte ich das noch übrige Hypothekengeld und erkannte, dass es nicht einmal für eine notdürftige Ausbesserung der Sturmschäden reichen würde. Das störte mich aber nicht besonders, weil ich den Geschmack am Farmerleben verloren hatte, wenngleich der Gedanke, dass die Farrington Company hier einen Schweineschlachthof hinstellen und den Bach verunreinigen würde, mich wieder vor Wut mit den Zähnen knirschen ließ. Vor allem wegen des hohen Preises, den ich dafür gezahlt hatte, dass diese dreimal gottverdammten 40 Hektar nicht in die Hände der Firma gerieten.