»Ich wette, du warst in deiner letzten Inkarnation ein Fernfahrer«, hatte Patsy McClain einmal gesagt.
Tess gefiel die Vorstellung von einem Leben, in dem sie keine zierliche Frau mit elfenhaftem Gesicht und schüchternem Lächeln war, die harmlose Kriminalromane schrieb, sondern ein großer Kerl mit breitkrempigem Hut, der ein sonnenverbranntes Gesicht mit grauem Dreitagebart beschattete, während er einer Bulldogge als Kühlerfigur über die eine Million Straßen folgte, die das Land kreuz und quer durchzogen. In jenem Leben war es nicht nötig, ihre Kleidung vor öffentlichen Auftritten sorgfältig aufeinander abzustimmen; verblichene Jeans und Stiefel mit Seitenschnallen würden genügen. Sie schrieb gern und hatte nichts dagegen, öffentlich zu sprechen, aber am liebsten fuhr sie Auto. Nach ihrem Auftritt in Chicopee kam ihr das komisch vor … aber nicht auf eine Weise komisch, über die man lachen musste. Nein, überhaupt nicht auf diese Weise komisch.
2
Die Einladung von Books & Brown Baggers entsprach ihren Anforderungen perfekt. Chicopee war kaum sechzig Meilen von Stoke Village entfernt, der Vortrag würde tagsüber stattfinden, und die Drei Bs boten als Honorar nicht nur zwölfhundert, sondern fünfzehnhundert Dollar. Natürlich plus Spesen, aber die würden minimal sein - nicht einmal eine Übernachtung in einem Courtyard Suites oder
»Ich weiß, dass diese Anfrage sehr kurzfristig kommt«, schrieb Ms. Norville in ihrem schmeichlerischen letzten Absatz, »aber in Wikipedia sehe ich, dass Sie im benachbarten Connecticut wohnen, und unsere Leser in Chicopee sind solche Fans der Strickclub-Mädels. Unsere ewige Dankbarkeit sowie das oben erwähnte Honorar wären Ihnen sicher.«
Tess bezweifelte, dass die Dankbarkeit ewig sein würde, und hatte im Oktober schon einen Termin angenommen (die Literary Calvalcade Week in den Hamptons), aber die I-84 würde sie zur I-90 bringen, und von der 90 ging es geradeaus nach Chicopee weiter. Mühelos hin, mühelos zurück; Fritzy würde kaum merken, dass sie fort gewesen war.
Ramona Norville hatte natürlich ihre Mailadresse angegeben, und Tess antwortete sofort und akzeptierte den Termin und das Honorar. Sie präzisierte auch - wie es ihre Gewohnheit war -, dass sie nicht länger als eine Stunde Bücher signieren würde. »Ich habe einen Kater, der mich tyrannisiert, wenn ich nicht zu Hause bin, um ihn abends persönlich zu füttern«, schrieb sie. Außerdem bat sie um nähere Einzelheiten, obwohl sie weitgehend wusste, was von ihr erwartet wurde; sie hatte Erfahrung mit solchen Veranstaltungen, seit sie dreißig geworden war. Trotzdem
Tess dachte auch kurz daran, vorzuschlagen, zweitausend Dollar seien vielleicht angemessener für etwas, das tatsächlich eine Art Nothilfe war, kam aber wieder davon ab. Außerdem bezweifelte sie, ob alle Strickclub-Bücher zusammen (genau ein Dutzend) sich so gut verkauft hatten wie eines von Stephanie Plums Abenteuern. Ob es ihr gefiel oder nicht - und Tess war das im Grund genommen egal -, war sie Ramona Norvilles Plan B. Ein Honoraraufschlag wäre fast Erpressung gewesen. Fünfzehnhundert waren mehr als fair. Als sie dann in dem Durchlass unter der Straße lag und aus geschwollenem Mund und gebrochener Nase Blut hustete, kam ihr das natürlich gar nicht mehr fair vor. Aber wären zweitausend denn fairer gewesen? Oder zwei Millionen?
Ob man Schmerzen und Entsetzen mit einem Preisschild versehen konnte, war eine Frage, mit der die Damen des Strickclubs sich nie befasst hatten. Die Verbrechen, die sie lösten, waren eigentlich nicht mehr als die Idee von Verbrechen. Aber als Tess sich gezwungen sah, darüber nachzudenken, fand sie, die Antwort laute nein. Als sie sich wirklich dazu gezwungen sah, hatte sie das Gefühl, für solch ein Verbrechen sei nur eine Vergeltung denkbar. Sowohl Tom als auch Fritzy stimmte ihr da zu.
3
Ramona Norville erwies sich als breitschultrige, vollbusige, joviale Frau Anfang sechzig mit gerötetem Gesicht, Kurzhaarfrisur und kompromisslosem Händedruck. Sie erwartete Tess vor der Bibliothek - mitten auf dem für den Berühmten Autor des Tages reservierten Parkplatz. Statt Tess einen guten Morgen zu wünschen (es war Viertel vor elf) oder ihr ein Kompliment zu ihren Ohrringen zu machen (tropfenförmige Brillanten, eine Extravaganz, die für ihre wenigen Abendeinladungen oder Vorträge wie heute reserviert blieb), stellte sie eine Männerfrage: War Tess auf der 84 hergekommen?
Als Tess das bejahte, machte Ms. Norville große Augen und blies die Backen auf. »Dann bin ich froh, dass Sie heil angekommen sind. Meiner bescheidenen Meinung nach ist die 84 der schlimmste Highway Amerikas. Außerdem ein ziemlicher Umweg. Aber die Rückfahrt lässt sich optimieren, wenn das Internet recht hat und Sie in Stoke Village leben.«
Tess bestätigte, dass das zutraf, obwohl sie nicht recht wusste, ob es ihr gefiel, dass Fremde - selbst eine freundliche Bibliothekarin - wussten, wo sie ihr müdes Haupt zur Ruhe bettete. Aber es hatte keinen Zweck, sich darüber zu beschweren; heutzutage stand alles im Internet.
»Ich kann Ihnen zehn Meilen sparen«, sagte Ms. Norville, als sie die Treppe zur Bibliothek hinaufstiegen. »Haben Sie ein Navi? Das ist besser als eine auf einen alten Umschlag gekritzelte Wegbeschreibung. Wundervolle Dinger.«
Tess, die die Ausstattung ihres Ford Expedition tatsächlich um ein Navi ergänzt hatte (es nannte sich TomTom und wurde in die Buchse des Zigarettenanzünders eingesteckt), sagte, zehn auf der Rückfahrt eingesparte Meilen wären sehr nett.
»Lieber geradeaus durch Robin Hoods Scheune als ganz außen herum«, sagte Ms. Norville mit einem leichten Klaps auf Tess’ Rücken. »Hab ich recht oder nicht?«
»Absolut«, bestätigte Tess, und damit war ihr Schicksal entschieden - einfach so. Aber sie hatte Abkürzungen natürlich nie widerstehen können.
4
Les affaires du livre bestanden im Allgemeinen aus vier klar definierten Akten, und Tess’ Auftritt bei der Monatsversammlung von Books & Brown Baggers war geradezu prototypisch. Die einzige Abweichung von der Norm war Ramona Norvilles Einführung, die ungewöhnlich kurz und bündig war. Sie brachte keinen entmutigenden Stapel Karteikarten mit aufs Podium, hielt es nicht für nötig, Tess’ Kindheit auf einer Farm in Nebraska zu schildern, und machte sich nicht die Mühe, ein Bukett aus lobenden Besprechungen der Kriminalromane über den Strickclub Willow Grove zu präsentieren. (Das war gut, denn sie wurden selten besprochen, und wenn es dazu kam, wurde meistens auch Miss Marple erwähnt, nicht immer in vorteilhafter Weise.) Ms. Norville sagte einfach, die Bücher seien ungeheuer populär (eine verzeihliche Übertreibung) und es sei äußerst großzügig von der Verfasserin, dass sie ihre Zeit so kurzfristig geopfert habe (obgleich bei fünfzehnhundert Dollar Honorar kaum von einem Opfer die Rede sein konnte). Dann überließ sie das Podium Tess unter dem enthusiastischen Beifall der etwa vierhundert Personen in dem kleinen, aber ausreichend großen Vortragssaal der Bibliothek. Die meisten waren Ladys von der Sorte, die nie ohne Hut ausgingen.
Die Einführung hatte jedoch mehr von einem Zwischenspiel an sich. Der erste Akt war der Empfang um elf Uhr, bei dem die besser zahlenden Gäste bei Käse, Crackern und scheußlichem Kaffee Tess persönlich kennenlernen konnten (bei Abendveranstaltungen gab es Plastikgläser mit scheußlichem Wein). Manche baten um Autogramme; viel mehr baten um Fotos, die sie im Allgemeinen mit ihren Handys machten. Sie wurde gefragt, woher sie ihre Ideen nehme, und gab die erwarteten höflichen und humorvollen Antworten. Ein halbes Dutzend Leute fragte sie, wie man einen Agenten bekomme, wobei das Glitzern in ihren Augen suggerierte, sie hätten die zusätzlichen zwanzig Dollar eigens dafür gezahlt, um diese Frage stellen zu können. Tess sagte, man schreibe Briefe, bis einer der Hungrigeren sich bereiterkläre, sich das eingesandte Zeug anzusehen. Das war nicht die ganze Wahrheit - in Bezug auf Agenten gab es keine ganze Wahrheit -, aber es kam ihr immerhin nahe.