»Zum Teufel mit dir, Ramona«, sagte sie. Natürlich wusste sie, dass es nicht wirklich die Schuld der Bibliothekarin war; die Vorsitzende (und das vermutlich einzige Mitglied) des Richard-Widmark-Fanclubs, Ortsgruppe Chicopee, hatte nur hilfsbereit sein wollen, aber Tess wusste nun einmal nicht, wie der Blödmann hieß, der diesen mit Nägeln gespickten Scheiß auf der Straße abgeladen hatte und unbekümmert weitergefahren war, deshalb musste Ramona für ihn herhalten.
»Soll ich deine Route neu berechnen, Tess?«, fragte Tom so unvermittelt, dass sie zusammenfuhr.
Sie schaltete das Navi aus und stellte dann auch den Motor ab. Hier draußen war es sehr still. Sie hörte Vogelstimmen, ein metallisches Ticken wie von einer alten Aufziehuhr und sonst nichts. Die gute Nachricht war, dass der Expedition nur nach links vorn geneigt dastand, statt auf ganzer Breite eingeknickt zu sein. Vielleicht war es nur der eine Reifen. Wenn das so war, würde sie keinen Abschleppwagen, sondern nur etwas Hilfe vom Automobilclub brauchen.
Als sie ausstieg und den linken Vorderreifen begutachtete, sah sie daran ein zersplittertes Stück Holz, das von einem im Gummi steckenden langen rostigen Nagel festgehalten wurde. Tess stieß einen einsilbigen Fluch aus, der keinem Mitglied des Strickclubs jemals über die Lippen gekommen wäre, und holte ihr Handy aus dem kleinen
Die Konventionen von Horrorstorys und Kriminalromanen - selbst der unblutigen Variante mit nur einer Leiche, die ihre Fans so schätzten - waren überraschend ähnlich, und als sie ihr Handy aufklappte, dachte sie: In einer Story würde es nicht funktionieren. Und genau ein solcher Fall, in dem das Leben die Kunst imitierte, war jetzt eingetreten, denn als sie ihr Nokia einschaltete, erschienen auf dem Display die Worte KEIN SERVICE. Natürlich. Ihr Handy benutzen zu können wäre zu einfach gewesen.
Sie hörte ein Fahrzeug mit einem Loch im Auspuff näher kommen, drehte sich um und sah einen alten weißen Lieferwagen durch die Kurve fahren, die den Expedition zur Strecke gebracht hatte. Auf seiner Seite spielte ein Cartoonskelett auf einem Schlagzeug, das aus kleinen Kuchen in Papierförmchen zu bestehen schien. Über dieser Erscheinung (viel eigenartiger als ein Fanfoto von Richard Widmark im Büro einer Bibliothekarin) standen in tropfender Horrorfilmschrift die Wörter ZOMBIE BAKERS. Tess war sekundenlang zu verwirrt, um zu winken, und als sie es endlich tat, war der Fahrer des Lieferwagens von Zombie Bakers zu sehr damit beschäftigt, dem Zeug auf der Fahrbahn auszuweichen, um sie zu bemerken.
Er wich schneller auf den Seitenstreifen aus als zuvor Tess, aber der Kastenwagen hatte einen höheren Schwerpunkt
»Verdammte Zombie Bakers!«, rief Tess erst laut, dann begann sie zu lachen. Manchmal blieb einem nichts anderes übrig.
Sie klemmte ihr Handy an den Bund ihrer Gabardinehose, ging auf die Straße hinaus und machte sich eigenhändig daran, die Bretter wegzuräumen. Das tat sie äußerst vorsichtig, weil sich aus der Nähe zeigte, dass in allen Holzteilen (die weiß gestrichen waren, als wären sie von jemandem, der mitten in einer Hausrenovierung steckte, abgerissen worden) Nägel steckten. Große hässliche Nägel. Sie arbeitete langsam, weil sie sich nicht verletzen wollte, aber sie hoffte auch, deutlich sichtbar ein Werk christlicher Barmherzigkeit zu verrichten, wenn der nächste Wagen vorbeikam. Als sie bis auf ein paar harmlose Splitter alles eingesammelt und die großen Stücke in den Straßengraben geworfen hatte, war jedoch noch immer kein Auto vorbeigekommen. Vielleicht, dachte sie, hatten die Zombie Bakers jedermann in unmittelbarer Umgebung verspeist und rasten jetzt in ihre Backstube zurück, um aus den Überresten die immer beliebten Leute-Kuchen zu backen.
Sie ging auf den verunkrauteten Parkplatz des ehemaligen Ladens zurück und betrachtete missmutig den schräg dastehenden Expedition. Rollender Stahl im Wert von vierzigtausend Dollar, Allradantrieb, vier Scheibenbremsen, dazu Tom das sprechende TomTom … und dann genügte ein Stück Holz mit einem Nagel darin, um einen stranden zu lassen.
Aber natürlich haben in allen Nägel gesteckt, dachte sie. In einem Kriminalroman - oder in einem Horrorfilm - wäre das kein Zeichen von Nachlässigkeit, sondern ein Beweis für einen Plan. Für eine regelrechte Falle.
»Zu viel Phantasie, Tessa Jean«, sagte sie, ihre Mutter zitierend … und das war natürlich eine Ironie des Schicksals gewesen, denn ihrer Phantasie verdankte sie letztlich ihr täglich Brot. Von dem Altersruhesitz in Daytona Beach, wo ihre Mutter die letzten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte, ganz zu schweigen.
In der tiefen Stille wurde sie wieder auf dieses blecherne Ticken aufmerksam. Der verlassene Laden gehörte zu einem Typus, den man im 21. Jahrhundert nicht mehr oft sah: Er hatte eine unverglaste Veranda. Ihre linke Ecke war eingefallen, und das Geländer war an mehreren Stellen defekt, aber es war tatsächlich eine Veranda, die selbst in ihrem verwahrlosten Zustand noch charmant war. Vielleicht wegen ihres Verfalls. Veranden vor Gemischtwarenläden waren unmodern geworden, vermutete Tess, weil sie dazu verlockten, eine Weile sitzen zu bleiben und über Baseball oder das Wetter zu reden, statt rasch zu zahlen und mit seinen Kreditkarten die Straße entlang ins nächste Geschäft zu hasten, in dem man sie durchs Lesegerät an der Kasse ziehen konnte. Unter dem Verandadach hing schief ein Blechschild. Es war noch stärker verblasst als das ESSO-Schild. Sie trat ein paar Schritte näher und legte eine Hand über die Augen, um sie zu beschatten. DU MAGST ES ES MAG DICH. Wofür hatte dieser Slogan gleich wieder geworben?
Auf dem Schrottplatz, den jeder Autor und jede Autorin im Hinterkopf zu haben schien, hatte sie die Antwort schon fast gefunden, als das Geräusch eines Motors sie aus ihren Gedanken riss. Als sie sich ihm mit der Überzeugung zuwandte, die Zombie Bakers hätten gewendet und seien
»Hallo?«, rief Tess. »Entschuldigung, Sir?«
Er drehte den Kopf zur Seite, sah sie im Unkraut auf dem Parkplatz stehen, hob grüßend die Hand, fuhr neben ihren Expedition und stellte den Motor ab. Seinem Geräusch nach lief das auf Sterbehilfe hinaus, fand Tess.
»Hallo«, sagte er. »Haben Sie diesen ganzen Scheiß von der Straße geräumt?«
»Ja, bis auf das Stück, das meinen linken Vorderreifen durchlöchert hat. Und …« Und mein Handy funktioniert hier draußen nicht, hätte sie fast hinzugefügt, bremste sich aber gerade noch rechtzeitig. Sie war eine Frau Ende dreißig, die tropfnass fünfundfünfzig Kilo auf die Waage brachte, und dies war ein fremder Mann. Ein großer Kerl. »… und hier wär ich nun«, schloss sie etwas lahm.
»Ich wechsle Ihnen das Rad, wenn Sie ein Reserverad haben«, sagte er, indem er sich aus seinem Pick-up zwängte. »Haben Sie eines?«
Tess konnte nicht gleich antworten. Der Kerl war nicht groß, da hatte sie sich getäuscht. Der Kerl war ein Riese. Er musste fast zwei Meter groß sein, aber reine Körperlänge war nur ein Teil davon. Er hatte einen gewaltigen Wanst, baumdicke Oberschenkel und Schultern von der Breite einer Tür. Sie wusste, dass es unhöflich war, Leute anzustarren (eine weitere Benimmregel, die sie auf dem Schoß ihrer Mutter gelernt hatte), aber es war schwierig, das nicht zu tun. Ramona Norville war eine muskulöse, stämmige Gestalt, aber neben diesem Kerl hätte sie wie eine Ballerina ausgesehen.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er in amüsiertem Ton. »Sie haben nicht erwartet, hier draußen in der Pampa dem Jolly Green Giant zu begegnen, was?« Nur war er nicht grün, sondern von der Sonne dunkelbraun gebrannt. Auch die Augen waren braun. Sogar die Mütze war braun, wenn auch an einigen Stellen fast weiß ausgebleicht, als hätte sie irgendwann in ihrem langen Leben ein paar Spritzer eines Bleichmittels abbekommen.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich habe nur gerade gedacht, dass Sie Ihren Pick-up nicht fahren, sondern anhaben.«