Er ist weggefahren. Du hast ihn gehört.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Und vielleicht brauchte sie die Röhre nicht dort zu verlassen, wo sie hineingekommen war. Wenn sie einen Durchlass bildete, würde sie die Straße unterqueren, und weil fließendes Wasser zu spüren war, würde sie nicht blockiert sein. Sie konnte ganz hindurchkriechen und vom anderen Ende aus den Parkplatz des verlassenen Ladens überblicken.
Und wenn er fort ist? Was dann?
Das konnte sie nicht sagen. Sie konnte sich ihr Leben nach dem Nachmittag in dem verlassenen Laden und dem Abend in der Röhre mit einem Polster aus verrottendem Laub unter dem Kreuz nicht vorstellen. Aber vielleicht war das auch nicht nötig. Vielleicht konnte sie sich darauf konzentrieren, zu Fritzy heimzukommen und ihn mit einer Packung Fancy Feast zu füttern. Sie konnte die Fancy-Feast-Schachtel ganz deutlich sehen. Sie stand in einem Regal in ihrer friedlichen Speisekammer.
Sie wälzte sich auf den Bauch und stützte sich auf die Ellbogen, um durch die Röhre weiterzukriechen. Dann sah sie, wer sich den Durchlass mit ihr teilte. Eine der Leichen war kaum mehr als ein Skelett (mit wie bittend ausgestreckten knochigen Händen), aber es hatte noch genügend Haare auf dem Kopf - auf ihrem Kopf -, dass Tess sich ziemlich sicher war, dass es eine Frauenleiche war. Die andere hätte eine grausig entstellte Schaufensterpuppe sein können, wären die hervorquellenden Augen und die heraushängende Zunge nicht gewesen. Diese Leiche war frischer, aber von Tieren angefressen, und Tess konnte selbst im Dunkel die zu einem Grinsen gebleckten Zähne der Toten erkennen.
Aus dem Haar der Schaufensterpuppe kam ein Käfer gekrabbelt und kroch über den Nasensattel hinunter.
Heiser schreiend, schob Tess sich rückwärts aus der Röhre und sprang auf - mit von der Taille aufwärts klatschnass
9
Sie war in dem Laden, in dem großen zentralen Verkaufsraum, der früher in Gänge aufgeteilt gewesen war, mit einer Tiefkühltruhe (vielleicht) im rückwärtigen Teil und einer Bierkühltheke (bestimmt) entlang der Rückwand. Sie nahm den Geruch von altem Kaffee und Essiggurken wahr. Sie angelte ihre Gabardinehose unter der Ladentheke hervor. Darunter lagen ihre Schuhe und ihr Handy - zertrümmert. Ihr Haargummi war weg. Sie erinnerte sich (vage, so wie man sich an bestimmte Dinge aus frühester Kindheit erinnert), dass an diesem Vormittag irgendeine Frau gefragt hatte, wo sie ihn gekauft habe, und dass ihre Antwort »bei JCPenney« unerklärlichen Beifall ausgelöst hatte. Sie dachte daran, wie der Riese »Brown Sugar« gesungen hatte - mit dieser monoton quiekenden kindlichen Stimme -, und trat weg.
10
Sie irrte durch den Mondschein hinter dem Laden. Sie trug einen Teppichrest um die Schultern, konnte sich aber nicht erinnern, woher sie ihn hatte. Er war schmuddelig, aber er wärmte, und sie zog ihn enger um sich. Dann merkte sie, dass sie das Gebäude in Wirklichkeit umkreiste, dass dies ihre zweite, dritte oder gar vierte Runde sein konnte. Ihr wurde bewusst, dass sie ihren Expedition suchte, aber immer wenn sie ihn nicht finden konnte, vergaß sie, dass sie hinter dem Laden schon gesucht hatte, und machte eine weitere Runde. Das vergaß sie, weil sie auf den Kopf geschlagen und vergewaltigt und gewürgt worden war und unter Schock stand. Sie befürchtete, eine Gehirnblutung zu haben - aber wie konnte man das wissen, außer man wachte bei den Engeln auf, die es einem erzählten? Die Nachmittagsbrise hatte aufgefrischt, und das Ticken des Blechschilds war etwas lauter. DU MAGST ES ES MAG DICH.
»7Up«, sagte sie. Ihre Stimme war heiser, aber brauchbar. »Das ist es! Du magst es, und es mag dich.« Sie hörte sich selbst laut singen. Sie hatte eine gute Singstimme, die überraschend angenehm rauchig klang, seit sie gewürgt worden war. Es war, als hörte man Bonnie Tyler hier draußen im Mondschein singen. »7Up tastes good … like a cigarette should!« Ihr wurde bewusst, dass das nicht richtig war, und selbst wenn es das war, sollte sie etwas Besseres als abgefuckte Werbejingles singen, solange sie diese angenehm rauchige Stimme hatte; wenn man vergewaltigt und mit zwei anderen verwesenden Vergewaltigungsopfern als tot in einer Röhre zurückgelassen wurde, musste man der Sache irgendwas Gutes abgewinnen können.
Ich werde Bonnie Tylers Hit singen. Ich werde »It’s a Heartache« singen. Den Text weiß ich bestimmt. Ich bin mir sicher,
Aber dann trat sie wieder weg.
11
Sie saß auf einem Felsblock und weinte sich die Augen aus. Den schmuddeligen Teppichrest trug sie weiterhin um die Schultern. Ihr Schritt brannte und schmerzte. Der saure Geschmack in ihrem Mund ließ darauf schließen, dass sie sich irgendwann zwischen ihren Runden um das Gebäude und der Rast auf diesem Felsblock übergeben haben musste, aber sie hatte keine Erinnerung daran. Woran sie sich erinnerte …
Er hat mich vergewaltigt, er hat mich vergewaltigt, er hat mich vergewaltigt!
»Du bist nicht die Erste, und du wirst nicht die Letzte sein«, sagte sie, aber diese von ersticktem Schluchzen unterbrochene liebevoll strenge Feststellung war nicht sonderlich hilfreich.
Er hat versucht, mich umzubringen, er hat mich fast umgebracht!
Ja, ja. Und in diesem Augenblick erschien ihr sein Versagen nicht sehr tröstlich. Sie sah nach links, wo in fünfzig bis sechzig Meter Entfernung das verlassene Gebäude stand.
Andere hat er umgebracht! Sie liegen in der Röhre! Kä fer krabbeln auf ihnen herum, ohne dass es sie stört!
»Ja, ja«, sagte sie mit ihrer rauen Bonnie-Tyler-Stimme, dann trat sie wieder weg.
12
Sie war »It’s a Heartache« singend mitten auf der Stagg Road unterwegs, als sie hinter sich ein näher kommendes Motorengeräusch hörte. Sie warf sich herum, wäre fast gestürzt und sah Autoscheinwerfer, die eine Hügelkuppe anstrahlten, über die sie gerade gekommen sein musste. Das war er. Der Riese. Er war zurückgekommen, hatte den Durchlass inspiziert und gesehen, dass sie nicht mehr darin lag. Und jetzt war er auf der Suche nach ihr.
Tess war mit einem Sprung im Straßengraben, ging in die Knie, verlor den umgehängten Teppichrest, sprang wieder auf und stolperte blindlings in die Büsche. Ein Ast ritzte ihr die Wange blutig. Sie hörte eine Frau angstvoll schluchzen. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie auf alle viere niedersank. Die Straße wurde hell, als die Scheinwerfer über den Hügel kamen. Sie sah den Teppichrest, den sie verloren hatte, sehr deutlich und wusste, dass der Riese ihn auch sehen würde. Er würde halten und aussteigen. Sie würde versuchen wegzurennen, aber er würde sie einholen. Sie würde schreien, aber niemand würde sie hören. In solchen Storys tat das nie jemand. Er würde sie umbringen, aber zuvor würde er sie noch mal vergewaltigen.
Das Auto - es war ein Auto, kein Pick-up - fuhr vorbei, ohne langsamer zu werden. Aus seinem Inneren drang der Sound von Bachman-Turner Overdrive, voll aufgedreht: »B-B-B-Baby, you just ain’t seen n-n-nuthin yet«. Sie beobachtete, wie die Heckleuchten schlagartig verschwanden. Sie merkte, dass sie kurz davor war, wieder wegzutreten, und schlug sich mit beiden Händen ins Gesicht.
»Nein!«, knurrte sie. »Nein!«
Sie kam wieder ein Stück weit zu Sinnen. Der Drang, in den Büschen versteckt zu bleiben, war stark, aber dort konnte sie nicht bleiben. Nicht nur war es noch lange bis
Tess hob den Teppichrest aus dem Straßengraben auf, um ihn sich wieder um die Schultern zu legen, berührte dann ihre Ohren und wusste bereits, was sie finden würde. Die tropfenförmigen Brillantohrringe, eine ihrer wenigen wirklichen Extravaganzen, waren weg. Sie brach erneut in Tränen aus, aber dieser Weinkrampf war kürzer, und als er vorbei war, fühlte sie sich mehr wie sie selbst. Mehr in sich selbst, eine Bewohnerin ihres Kopfs und Körpers, statt sich nur wie ein Gespenst zu umschweben.