Bei dem Gedanken an ihre Aussage bei der Polizei wurde ihr ganz heiß, und sie konnte spüren, wie ihr Gesicht sich vor Scham buchstäblich verzerrte, selbst allein hier draußen in der Dunkelheit. Auch wenn sie vielleicht nicht Sue Grafton oder Janet Evanovich war, war sie doch streng genommen keine Privatperson. Sogar CNN würde ein, zwei Tage über sie berichten. Die Welt würde erfahren, dass ein verrückter, grinsender Riese sich in die Willow-Grove-Autorin ergossen hatte. Sogar die Tatsache, dass er ihren Slip als Souvenir behalten hatte, konnte herauskommen. CNN würde dieses Detail nicht melden, aber der National Enquirer oder Inside View würden solche Bedenken nicht haben.
Mit den Ermittlungen vertraute Personen behaupten, dass bei dem mutmaßlichen Vergewaltiger ein Slip der Autorin gefunden wurde: ein mit Spitze besetzter blauer Hü ftslip von Victoria’s Secret.
»Ich kann es nicht erzählen«, sagte sie. »Ich werde es nicht erzählen.«
Aber es hat andere vor dir gegeben, es könnte weitere nach dir …
Sie verdrängte diesen Gedanken energisch. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, wozu sie moralisch verpflichtet
Ihrer. Er gehörte jetzt ihr.
13
Ungefähr eine Meile nach dem Ortsschild von Colewich hörte sie auf einmal ein tiefes, rhythmisches Pochen, das aus der Straße, auf der sie lief, zu kommen schien. Zuerst dachte sie an die Morlocks, H. G. Wells’ Mutanten, die tief im Erdinneren ihre Maschinen bedienten, aber nach weiteren fünf Minuten klärte sich die Ursache des Lärms auf. Er kam durch die Luft, nicht aus der Erde, und war ein Klang, den sie kannte: der Herzschlag einer Bassgitarre. Der Rest der Band materialisierte sich darum herum, während sie weiterging. Bald konnte sie am Horizont Licht sehen: keine Autoscheinwerfer, sondern das Weiß von Bogenlampen und das rote Leuchten von Neonröhren. Die Band spielte »Mustang Sally«, und Tess konnte Gelächter hören. Es war betrunken und wunderbar, mit fröhlichen Saufgelagejuchzern durchsetzt. Bei diesen Lauten hätte sie am liebsten wieder geweint.
Das Rasthaus, ein großer alter Partyschuppen mit einem riesigen unbefestigten Parkplatz, der gesteckt voll zu sein schien, nannte sich The Stagger Inn. Sie blieb stirnrunzelnd am Rand der Lichtflut der Parkplatzbeleuchtung stehen. Weshalb so viele Autos? Dann fiel ihr ein, dass heute Freitag war. An Freitagabenden war das Stagger Inn offenbar der angesagte Club, wenn man aus Colewich oder einer
Er konnte dort sein. War er nicht zwischendurch um sie herumgetanzt und hatte mit seiner schrecklich tonlosen Stimme einen Song der Rolling Stones gesungen? Vielleicht hatte sie diesen Teil nur geträumt - oder als Halluzination wahrgenommen -, aber das glaubte sie nicht. War es nicht denkbar, dass er geradewegs ins Stagger Inn gefahren war, nachdem er den Geländewagen versteckt hatte, alle Röhren frisch durchgespült und bereit, die Nacht durchzufeiern? Sie traute sich zu, seinen Pick-up zu erkennen, wenn sie ihn sah, aber auf dem Parkplatz standen so viele Fahrzeuge. Selbst wenn sie die Reihen einzeln absuchte, konnte sie ihn übersehen.
Die Band legte mit einem fast original klingenden alten Song der Cramps los: »Can Your Pussy Do the Dog?«. Nein, dachte Tess, aber heute hat es ein Hund meiner Pussy besorgt. Die Alte Tess hätte einen Scherz dieser Art nicht gebilligt, aber die Neue Tess hielt ihn für ziemlich gut. Sie bellte ein heiseres Lachen, setzte sich wieder in Bewegung und ging auf die andere Straßenseite hinüber, wo die Parkplatzbeleuchtung nicht mehr ganz hinreichte.
Als sie an der Rückseite des Gebäudes vorbeikam, sah sie einen alten weißen Kastenwagen, der rückwärts an die Ladebucht herangestoßen war. Auf dieser Seite des Stagger Inn gab es keine Bogenlampen, aber der Mondschein reichte aus, um ihr das Skelett mit seinem Schlagzeug aus
»Can your pussy do the dog?«, fragte Tess und zog den schmuddeligen Teppichrest etwas enger um den Hals. Er war keine Nerzstola, aber in dieser kühlen Oktobernacht besser als nichts.
14
Wenn Sie die 47 erreichen, hatte Ramona Norville gesagt, sehen Sie einen Wegweiser zur I-84. Tess sah etwas noch Besseres: ein Gas & Dash mit zwei Kartentelefonen an der Hohlblocksteinwand zwischen den Toiletten.
Sie ging zuerst auf Damen und musste mit einer Hand vor dem Mund einen Schrei unterdrücken, als ihr Urin zu fließen begann; es brannte, als hätte jemand in ihr ein Streichholzbriefchen angezündet. Als sie vom WC aufstand, kullerten wieder Tränen über ihre Wangen. Das Wasser in der Schüssel war pastellrosa. Sie tupfte sich mit zusammengelegtem Klopapier ab - sehr sanft - und betätigte dann die Spülung. Sie hätte ein weiteres Papierpolster in den Schritt ihrer Unterhose gelegt, aber das konnte sie natürlich nicht. Der Riese hatte ihren Slip als Souvenir mitgenommen.
»Du Scheißkerl«, sagte sie mit ihrer neuen, rauen Bonnie-Tyler-Stimme.
Sie blieb mit einer Hand auf dem Türknopf stehen und betrachtete in dem wasserfleckigen Metallspiegel über dem Waschbecken die misshandelte Frau mit den weit aufgerissenen Augen. Dann ging sie hinaus.
15
Sie entdeckte, dass es in diesen modernen Zeiten eigenartig schwierig geworden war, ein Kartentelefon zu benutzen, auch wenn man die Nummer seiner Telefonkarte auswendig wusste. Das erste Telefon, das sie ausprobierte, funktionierte nur in einer Richtung: Sie konnte die Auskunft hören, aber die Telefonistin konnte nicht sie hören und trennte deshalb die ohnehin unzulängliche Verbindung. Das andere Telefon hing schief an der Hohlblocksteinwand - wenig ermutigend -, aber es funktionierte. Aus dem Hörer kam ein stetiges ärgerliches Summen, aber wenigstens konnten die Telefonistin und sie miteinander reden. Nur hatte Tess weder Bleistift noch Kugelschreiber. In ihrer Handtasche hatte sie mehrere Schreibgeräte, aber die war weg.
»Können Sie mich nicht einfach verbinden?«, fragte sie die Telefonistin.
»Nein, Ma’am, Sie müssen die Nummer selbst wählen, um Ihre Kreditkarte zu benutzen.« Die Telefonistin sprach, als müsste sie einem dummen Kind etwas allgemein Bekanntes erklären. Das brachte Tess aber nicht auf; sie fühlte sich wie ein dummes Kind. Dann sah sie, wie staubig die Wand war. Sie forderte die Telefonistin auf, ihr die Nummer zu geben, und als sie kam, schrieb Tess sie mit dem Zeigefinger in den Staub.
Bevor sie wählen konnte, fuhr ein Pick-up auf den Parkplatz. Ihr Herz flog mit schwindelerregender akrobatischer Leichtigkeit in ihre Kehle hinauf, und als zwei lachende Jungs in Highschool-Jacken ausstiegen und in dem Laden verschwanden, war sie froh, dass es dort oben war. Es blockierte den Schrei, den sie sonst bestimmt nicht hätte unterdrücken können.
Sie spürte, dass die Welt wegzutreten versuchte, lehnte den Kopf sekundenlang an die Wand und rang nach Atem.
Sie machte sich auf einen Anrufbeantworter oder einen gelangweilten Kundenbetreuer gefasst, der ihr erklärte, sie hätten keine Wagen, natürlich nicht, heute sei Freitagabend, sind Sie dumm auf die Welt gekommen, Lady, oder erst später so geworden? Aber nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine geschäftsmäßige Frau, die sich als Andrea vorstellte. Sie hörte Tess zu, dann sagte sie, sie würden sofort einen Wagen hinausschicken, ihr Fahrer würde Manuel sein. Ja, sie wisse genau, von wo aus Tess anrufe, weil sie dauernd Wagen zum Stagger Inn hinausschickten.
»Okay, aber ich bin nicht dort«, sagte Tess. »Ich bin an der Kreuzung ungefähr eine halbe Meile vom…«