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»Ja, Ma’am, das habe ich«, sagte Andrea. »Das Gas & Dash. Dort fahren wir manchmal auch hin. Die Leute gehen oft zu Fuß hin und rufen an, wenn sie ein bisschen zu viel getrunken haben. Es wird ungefähr fünfundvierzig Minuten dauern, vielleicht sogar eine Stunde.«

»Das ist in Ordnung«, sagte Tess. Wieder flossen ihr die Tränen. Diesmal Tränen der Dankbarkeit, obwohl sie sich ermahnte, wachsam zu bleiben, weil die Hoffnungen der Heldin sich in solchen Storys allzu oft als trügerisch erwiesen. »Das ist völlig in Ordnung. Ich bin um die Ecke bei den Telefonen. Und ich halte die Augen offen.«

Jetzt wird sie mich fragen, ob ich etwas zu viel getrunken habe. Weil ich wahrscheinlich so klinge.

Aber Andrea wollte nur wissen, ob sie bar oder mit Karte zahlen würde.

»American Express. Ich müsste in Ihrem Computer sein.«

»Ja, Ma’am, das sind Sie. Danke, dass Sie Royal Limousine angerufen haben, wo jeder Kunde königlich behandelt

Als sie den Hörer einhängen wollte, kam ein Mann - er, das ist er - um die Ladenecke genau auf sie zugerannt. Diesmal hatte sie keine Chance aufzuschreien; sie war vor Entsetzen gelähmt.

Es war einer der beiden Teenager. Er lief an ihr vorbei, ohne sie anzusehen, schlug einen Haken nach links und verschwand in Herren. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Wenige Augenblicke später hörte sie den pferdeartig starken Strahl, mit dem ein junger Mann seine schrecklich gesunde Blase entleerte.

Tess ging an der Seite des Gebäudes entlang nach hinten. Dort stand sie neben einem übelriechenden Müllbehälter (nein, dachte sie, ich stehe nicht, ich lauere) und wartete darauf, dass der junge Mann fertig war und verschwand. Dann ging sie zu den Telefonen zurück, um die Straße zu beobachten. Obwohl sie an vielen Stellen Schmerzen hatte, spürte sie, wie ihr Magen vor Hunger knurrte. Sie hatte das Abendessen versäumt, war einfach zu sehr damit beschäftigt gewesen, vergewaltigt und beinahe umgebracht zu werden, um etwas zu essen. Sie hätte gern irgendeinen der Snacks gehabt, die in solchen Läden verkauft wurden - sogar ein paar dieser scheußlichen kleinen, widerlich gelben Erdnussbuttercracker wären köstlich gewesen -, aber sie hatte kein Geld. Auch wenn sie welches gehabt hätte, wäre sie nicht hineingegangen. Sie kannte die Beleuchtung in Tankstellenshops wie dem Gas & Dash: unbarmherzig grelle Leuchtstoffröhren, in deren Licht selbst Gesunde aussahen, als litten sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der oder die Angestellte hinter der Theke würde ihr entstelltes Gesicht, die gebrochene Nase und die geschwollenen Lippen anstarren, und auch wenn er oder sie nichts sagte, würde Tess leicht geweitete Augen sehen. Und vielleicht ein Wer hat Sie so rangenommen, Lady, und womit haben Sie sich’s verdient? Sind wohl nicht rübergekommen, nachdem irgendein Kerl seinen Überstundenlohn für Sie ausgegeben hat, was?

Das erinnerte sie an eine alte Scherzfrage, die sie irgendwo gehört hatte: Wieso gibt es jährlich dreihunderttausend misshandelte Frauen in Amerika? Weil sie … verdammt noch mal … ein fach nicht gehorchen.

»Macht nichts«, flüsterte sie. »Ich esse etwas, wenn ich zu Hause bin. Vielleicht Thunfischsalat.«

Das klang gut, aber irgendwie war sie davon überzeugt, dass sie wohl nie wieder Thunfischsalat - oder übrigens auch widerlich gelbe Erdnussbuttercracker aus Tankstellenshops - essen können würde. Die Vorstellung, dass eine Limousine vorfahren und sie aus diesem Albtraum holen würde, war zu gut, um wahr zu sein.

Irgendwo zu ihrer Linken konnte Tess das Rauschen des Verkehrs auf der I-84 hören - auf der Interstate, die sie genommen hätte, wenn sie nicht so erfreut gewesen wäre, die Heimfahrt abkürzen zu können. Dort drüben auf der Turnpike waren Leute, die nie vergewaltigt oder in Röhren gestopft worden waren, zu fernen Zielen unterwegs. Tess fand, dass das Geräusch ihres unbekümmerten Reisens das Einsamste war, das sie je gehört hatte.

16

Die Limousine kam. Es handelte sich um einen Lincoln Town Car. Der Fahrer stieg aus und sah sich um. Tess beobachtete ihn von der Ladenecke aus genau. Er trug einen dunklen Anzug. Er war ein kleiner Kerl mit Brille, der nicht wie ein Vergewaltiger aussah … aber natürlich waren nicht alle Riesen Vergewaltiger und nicht alle Vergewaltiger Riesen. Aber sie würde ihm vertrauen müssen. Wenn sie nach Hause und Fritzy füttern wollte, blieb ihr keine andere Wahl. Also ließ sie ihre schmutzige improvisierte Stola unter das funktionierende Kartentelefon fallen und ging langsam, und ohne zu schwanken, zu dem Town Car. Das aus den Fenstern des Tankstellenshops fallende Licht erschien ihr blendend hell, als sie aus dem Halbschatten trat, und sie war sich bewusst, wie ihr Gesicht aussah.

Er wird fragen, was mir zugestoßen ist, und dann wird er fragen, ob ich ins Krankenhaus will.

Aber Manuel (der vielleicht schon Schlimmeres gesehen hatte, das war nicht unmöglich) hielt ihr nur den Schlag auf und sagte: »Willkommen bei Royal Limousine, Ma’am.« Sein sanfter hispanischer Akzent passte zu seinem dunklen Teint und den schwarzen Augen.

»Wo ich königlich behandelt werde«, sagte Tess mit ihrer neuen, rauchigen Stimme. Sie versuchte zu lächeln. Was ihren geschwollenen Lippen ziemlich wehtat.

»Ja, Ma’am.« Sonst nichts. Gott segne Manuel, der vielleicht schon Schlimmeres gesehen hatte - vielleicht dort, wo er herkam, vielleicht auf dem Rücksitz genau dieses Wagens. Wer wusste, was für Geheimnisse Limo-Fahrer bewahrten? Das war eine Frage, in der ein gutes Buch versteckt sein konnte. Nicht von der Art, die sie schrieb, natürlich nicht … aber wer konnte wissen, was für Bücher sie in Zukunft schreiben würde? Oder ob sie überhaupt noch

Sie stieg hinten ein und bewegte sich dabei wie eine alte Frau mit fortgeschrittener Osteoporose. Als sie saß und er die Tür geschlossen hatte, umklammerte sie den Türgriff und sah aufmerksam nach vorn, weil sie sichergehen wollte, dass Manuel sich ans Steuer setzte, nicht der Riese in der Latzhose. In Stagg Road Horror 2 wäre es der Riese gewesen: ein letztes Drehen an der Spannungsschraube vor dem Abspann. Ein bisschen Ironie des Schicksals, das ist gut für den Kreislau f.

Aber es war Manuel, der einstieg. Natürlich er. Sie entspannte sich.

»Als Adresse habe ich 19 Primrose Lane in Stoke Village. Ist das korrekt?«

Im ersten Augenblick wusste sie’s nicht; die Nummer ihrer Telefonkarte hatte sie ohne Unterbrechung eingetippt, aber die eigene Adresse war ihr entfallen.

Entspann dich, sagte sie sich. Es ist vorbei. Das hier ist kein Horrorfilm, es ist dein Leben. Du hast Schreckliches durchgemacht, aber es ist vorbei. Also entspann dich.

»Ja, Manuel, das stimmt.«

»Möchten Sie zwischendurch irgendwo halten, oder fahren wir direkt zu Ihnen nach Hause?« Das war seine einzige dezente Anspielung auf das, was die Lichter des Gas & Dash ihm gezeigt haben mussten, als sie auf den Town Car zugekommen war.

Es war nur Glück, dass sie weiter die Antibabypille nahm - Glück und vielleicht Optimismus, denn sie hatte seit drei Jahren nicht einmal mehr einen One-Night-Stand erlebt, außer man zählte heute Nacht mit -, aber Glück hatte sich heute rar gemacht, und sie war für diesen glücklichen kleinen Zufall dankbar. Bestimmt hätte Manuel irgendwo entlang

»Keine Zwischenstopps, bringen Sie mich bitte einfach nur nach Hause.«

Bald waren sie auf der I-84, auf der reger Freitagnachtverkehr herrschte. Die Stagg Road mit dem verlassenen Geschäft lag hinter ihr. Was vor ihr lag, war ihr eigenes Haus mit einer Alarmanlage und Schlössern an allen Türen. Und das war gut.

17

Alles lief genauso ab, wie sie es sich vorgestellt hatte: die Ankunft, das auf der Kreditkartenabrechnung hinzugefügte Trinkgeld, ihr Weg zwischen den Blumenrabatten zur Haustür (sie bat Manuel, noch zu warten und ihr mit seinen Scheinwerfern zu leuchten, bis sie drinnen war), Fritzys Miauen, als sie den Briefkasten hochkippte und den Reserveschlüssel von seinem Haken angelte. Dann war sie drinnen, und Fritzy strich ihr ungeduldig um die Beine, wollte hochgehoben und gestreichelt werden, wollte gefüttert werden. Das alles tat Tess, aber als Erstes sperrte sie die Haustür hinter sich ab und schaltete erstmals seit Monaten die Alarmanlage ein. Als sie auf dem kleinen grünen Display über dem Tastenfeld das Wort SCHARF blinken sah, begann sie endlich, sich annähernd wieder wie sie selbst zu fühlen. Sie sah auf die Küchenuhr und war verblüfft, weil es erst Viertel nach elf war.