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Tess äußerte sich nicht dazu.

Der Korridor endete an einer Tür mit der Aufschrift NUR FÜR PERSONAL. Der Raum dahinter war groß, freundlich und voller Morgensonne. An einer Wand hing ein gerahmtes Foto von Barack Obama über einem Stoßstangenaufkleber mit dem Slogan YES WE CAN. Tess konnte ihr Taxi nicht sehen - das Gebäude versperrte ihr die Sicht -, aber sie konnte seinen Schatten erkennen.

Das ist gut. Bleib dort stehen, und verdien dir deine zehn Scheinchen. Und geh nicht rein, wenn ich nicht rauskomme. Ru f nur die Polizei.

Neal setzte sich an den Schreibtisch, der in der Ecke des Raums stand. »Dann zeigen Sie mal Ihren Ausweis.«

Tess öffnete ihre Handtasche, griff an dem Revolver vorbei und holte ihren Reisepass und den Mitgliedsausweis der Authors Guild heraus. Neal warf nur einen flüchtigen Blick in den Pass, aber als sie den Schriftstellerausweis sah, bekam sie große Augen. »Sie sind die Willow-Grove-Lady!«

Tess lächelte tapfer, obwohl ihr davon die Lippen schmerzten. »Schuldig im Sinne der Anklage.« Ihre Stimme klang heiser, so als hätte sie eben eine schlimme Erkältung hinter sich.

»Meine Oma liebt diese Bücher!«

»Das tun viele Omas«, sagte Tess. »Sobald diese Vorliebe auf die nächste Generation übergeht - die noch keine Renten bezieht -, kaufe ich mir einen Landsitz in Frankreich.«

Der Spruch brachte ihr manchmal ein Lächeln ein. Nicht jedoch von Ms. Neal. »Hoffentlich ist das nicht hier passiert.« Genauer drückte sie sich nicht aus, aber das war auch nicht notwendig. Tess wusste, was sie meinte, und Betsy Neal wusste, dass sie es wusste.

Tess überlegte, ob sie die Story, die sie Patsy aufgetischt hatte, zum zweiten Mal erzählen sollte - der piepsende Rauchmelder, die Katze zwischen ihren Füßen, die Kollision mit dem Endpfosten des Treppengeländers -, und sparte sich dann die Mühe. Diese Frau war tagsüber sicher sehr tüchtig und besuchte das Stagger Inn vermutlich so selten wie möglich, wenn hier Betrieb herrschte, aber sie hegte offenbar keine Illusionen darüber, was hier manchmal abging, wenn die Gäste zu später Stunde betrunken waren. Schließlich war sie diejenige, die früh am Samstagmorgen herkam, um wieder ein paar Autobesitzer anzurufen. Vermutlich kannte sie vom Morgen danach schon mehr als genug Storys von mitternächtlichen Stürzen, Ausrutschern unter der Dusche et cetera, et cetera.

»Nicht hier«, sagte Tess. »Keine Sorge.«

»Auch nicht auf dem Parkplatz? Sollte das dort passiert sein, muss ich dafür sorgen, dass Mr. Ferrer mit dem Wachpersonal redet. Mr. Ferrer ist der Boss, und die Sicherheitsleute sollen die Monitore der Überwachungskameras regelmäßig kontrollieren, vor allem in Nächten mit viel Betrieb.«

»Es ist erst passiert, als ich weggefahren war.«

Jetzt muss ich wirklich anonym anru fen, wenn ich überhaupt Anzeige erstatten will. Weil ich lüge, und sie sich daran erinnern wird.

Wenn sie überhaupt Anzeige erstatten wollte? Natürlich wollte sie das. Richtig?

»Das tut mir sehr leid.« Neal machte eine Pause, als debattierte sie mit sich selbst. Dann sagte sie: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber in einem Lokal dieser Art haben Sie eigentlich nichts verloren. Ihr Besuch hat ein schlimmes Ende genommen, und wenn die Medien darüber berichten würden … nun, meine Oma wäre schrecklich enttäuscht.«

Tess stimmte ihr zu. Und weil sie sich darauf verstand, Storys überzeugend auszuschmücken (ein Talent, an dem sie zehn Jahre lang gefeilt hatte), tat sie es. »Ein schlimmer Freund nagt schärfer als ein Schlangenzahn. Das sagt die Bibel, glaube ich. Vielleicht war’s auch Dr. Phil. Jedenfalls habe ich mich von ihm getrennt.«

»Das sagen viele Frauen, bevor sie wieder schwach werden. Und ein Kerl, der so was ein Mal tut …«

»Tut es noch mal. Ja, ich weiß, das war dumm von mir. Was haben Sie denn aus meinem Besitz, wenn Sie meine Handtasche nicht haben?«

Ms. Neal drehte sich mit dem Sessel um (die Sonne glitt über ihr Gesicht und ließ kurz die ungewöhnlichen blauen Augen aufblitzen), zog eine Schrankschublade auf und brachte Tom das TomTom zum Vorschein. Tess war entzückt, ihren alten Reisegefährten wiederzusehen. Das machte zwar nicht alles wieder gut, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.

»Wir sollen nichts aus Gästeautos mitnehmen, sondern nur Adresse und Telefonnummer feststellen, wenn das möglich ist, und den Wagen dann absperren, aber ich wollte Ihr Navi nicht zurücklassen. Um an gute Geräte heranzukommen, schlagen Diebe sogar Scheiben ein, und das hier hat gut sichtbar in seiner Halterung auf dem Instrumentenbrett gesteckt.«

»Danke.« Tess spürte, dass ihr hinter der Sonnenbrille die Tränen in die Augen traten, und drängte sie zurück. »Das war sehr aufmerksam von Ihnen.«

Betsy Neal lächelte, was ihre geschäftsmäßig strenge Miene augenblicklich erstrahlen ließ. »Nichts zu danken. Und wenn Ihr Freund zurückgekrochen kommt und um eine zweite Chance bettelt, denken Sie bitte an meine Oma und alle Ihre übrigen treuen Leserinnen und schicken ihn zum Teufel.« Sie überlegte kurz. »Aber tun Sie’s mit eingehakter Sicherungskette. Weil ein schlimmer Freund wirklich schärfer nagt als ein Schlangenzahn.«

»Das ist ein guter Rat. Also, ich muss jetzt gehen. Ich habe dem Taxifahrer gesagt, dass er warten möchte, bis feststeht, dass ich meinen Wagen zurückbekomme.«

Und das hätte alles sein können - wirklich schon alles -, aber dann fragte Neal auf gewinnende Weise schüchtern, ob Tess ihr ein Autogramm für ihre Großmutter geben könne. Tess beteuerte, das sei ihr ein Vergnügen, und sah dann trotz allem, was passiert war, aufrichtig amüsiert zu, wie Neal einen Briefbogen des Stagger Inn hervorzog, die Kopfzeile abtrennte und ihr den Rest des Blatts über den Schreibtisch zuschob.

»Bitte schreiben Sie ›Für Mary, einen wahren Fan‹. Geht das?«

Natürlich ging das. Und während Tess das Datum hinzufügte, fiel ihr eine weitere Ausschmückung ein. »Ein Mann hat mir geholfen, als mein Freund und ich uns … na ja, gezofft haben. Ohne sein Eingreifen hätte ich noch schlimmer verletzt werden können.« Ja! Sogar vergewaltigt! »Ich würde mich gern bei ihm bedanken, aber ich weiß nicht, wie er heißt.«

»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen kann. Ich bin nur die Bürokraft.«

»Aber Sie sind doch von hier, oder?«

»Ja …«

»Ich bin ihm in dem kleinen Laden an der Kreuzung mit der US 47 begegnet.«

»Dem Gas & Dash?«

»Ja, so heißt er, glaube ich. Dort haben mein Freund und ich uns gestritten. Wegen des Autos. Ich wollte nicht mehr fahren, aber auch nicht ihn ans Steuer lassen. Darüber haben wir gestritten, als wir auf der Straße unterwegs waren … die Straße entlanggestolpert sind … die Stagg Road hinabgestolpert sind …«

Neal lächelte wie jemand, der einen Scherz schon oft gehört hat.

»Jedenfalls ist dieser Kerl mit einem großen alten Pick-up vorbeigekommen, der um die Scheinwerfer herum mit diesem Plastikzeug gegen Rost beschichtet war.«

»Bondo?«

»Ja, so heißt das, glaube ich.« Dabei wusste sie verdammt gut, dass das Zeug so hieß. Ihr Vater hatte den Hersteller fast im Alleingang erhalten. »Als er ausgestiegen ist, habe ich gedacht, der fährt seinen Pick-up nicht, der hat ihn wie ein Kleidungsstück an. Das weiß ich noch gut.«

Als sie das Blatt mit dem Autogramm über den Schreibtisch zurückschob, sah sie, dass Betsy Neal jetzt grinste. Irgendwie ließ das den leichten Farbunterschied zwischen den Augen noch deutlicher hervortreten. »Gott, ich weiß vielleicht tatsächlich, wen Sie meinen!«

»Wirklich?«

»War er groß oder richtig groß?«

»Richtig groß«, sagte Tess. Sie empfand ein seltsam aufmerksames Glücksgefühl, das aber nicht im Kopf, sondern mitten in ihrer Brust zu sitzen schien. So fühlte sie sich sonst, wenn die Fäden irgendeines ungewöhnlichen Plots sich zu straffen begannen und ihn wie einen Seesack zusammenzogen. Wenn das passierte, war sie jedes Mal überrascht